Sonntag, 1. Mai 2016
Cool
Erfurt, den Rücken gekehrt
Kaum Erfurt den Rücken gekehrt, steckten auch schon die aktuellen Tageszeitungen wie zerfledderte Vogelkadaver in den Ablagen der Sitze und gaben ihm zu denken. Die Bahn informiert; die Welt informiert; die Süddeutsche informiert, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der SPIEGEL, das Börsenblatt, die Wirtschaftswoche und so fort. Das schwarze Leichengift vorgestrigen Geschehens – es tropfte aus den abgegriffenen Seiten; daneben, hinter dem Fensterglas, flog wieder Thüringen vorbei.

Selbst Krähen schweigen/Empörung wird nicht mehr belohnt/Der hart erkämpfte Sitz wird bald besetzt/ von jugendlicheren/ Einsam der blaue Stahl der Himmel thront/fernnaher Finsternisse Herz entrissen/und Winde fluchen stumm hinweg ins Grau/über Leipzig/ im Blick den starren Schwarm /kauern verbissen Bewerber/Entlang der Parks und ausgedienter Loren/Die alten Waffen kampflos in der Hand/Die alte Angst bar jeder Hoffnung in den Augen/Sand – er wusste, er musste die Gedichte jetzt schreiben. Einmal in Leipzig angekommen, wäre er nie mehr in der Lage gewesen, auch nur eine einzige Zeile daraus zu machen, von einem Reim ganz zu schweigen. Selbst Krähen schweigen – Pause - aus Empörung – neue Zeile
wächst kein Lohn – Pause und neue Zeile
Es droht Verlust der hart erkämpften Sitze. Nur – jetzt neues Tempo
lichte Weite aus dem geglaubten Herz entfernter Finsternis entrissen
glänzt und Winde fluchen stumm. Hinweg - dann wieder Pause
über den unbesetzten Thron
Als Strophe zwei
Den fein vermaschten Kabeldrähten – siehe oben
und Kanülen, Masten auch – wie vorhin
der grauen Himmel über Leipzig - Ruhe
Im Blick den starren Schwarm – den Rhythmus halten
schweigen verbissen Bewerber und gehen ihrer Wege - halten
Schicksale schlendern Arm in Arm – immer noch halten
Entlang der Parks und abgewrackter Gleise – dann neue Zeile
Wartend wie sie, vergilbend in die Zukunft - Spannung
Wie Plakate – und neue Zeile
Die alten Waffen kampflos in der Hand – wie oben
Die alte Angst bar jeder Hoffnung im Gesicht – wie oben
Samt in den Mündern und Augen weit geschlossen – neue Zeile
Von fern erklingen unerhört Signale – neue Zeile
eines längst verschwundenen – Pause und neue Zeile
Zuges
Zug außer Sichtweite – großes Gelächter

Die Brandon Hurst Story
In den Bibliotheken fand er sich unter Brandon Hurst, geboren in Südafrika, Sohn eines Entwicklungsingenieurs. Anfang der 60er Jahre mussten Entwicklungsingenieure Europa verlassen, um für einen westdeutschen Großkonzern eine Produktionsstraße für atomare Getriebeschaltungen in der Nähe Kapstadts aufzubauen. Nicht die verlockendste pitchline einer Suchmaschine, aber bunt, irgendwie sexy (Dummermann) und geheimnisvoll.
Die 70er Jahre waren bunt und irgendwie sexy und für alle, die sie nicht kennen, also für jeden unter 40, natürlich sehr geheimnisvoll. Das Geheimnis schlechthin. Für die Heutigen hat alles was ihnen passiert in den 70ern angefangen. (Wie für die 78 gerade 30 Gewordenen alles was ihnen passiert ist in der Nazizeit angefangen hat, z.B. Radio, muttersprachliches Massenkino, Nietzsche als Erzieher und Marx im Reich der verbotenen Bücher, das plötzlich (Lenin) über echte Waffen verfügt. Heute heißt das Besitz von Massenvernichtungswaffen und wird von den Oldschoolkapitalistenführern genau so rigouros bekämpft wie seinerzeit die junge Sowjet-Union. Aber dies nur am Rand, Werbematerial.
Was für eine Welt! Ost-West-Konflikt. Befreiungskriege, die den Namen noch verdienten, das Abklingen aller sozialdemokratischer Bildungseuphorien von London über Bonn bis nach München. In Spanien stirbt der letzte amtierende Faschist Europas in seinen Stiefeln. In Griechenland lässt die dortige SS eine Arbeiterregierung an die Macht kommen. Tito, der einzige, der den Trikont nicht bescheißt, hat nur noch ein paar Jahre zu leben. Und mit ihm der Erfolgsstaat Sozialistische Bundesrepublik Jugoslawien. Und in Rom machten Visconti und Fellini mit Helmut Berger, Kokain und der Mafia Hollywoodfilme, jenseits von Amerika. Und in England räumt eine alte Schlampe im Auftrag des Geheimdienstes ihrer Majesty mit Hilfe der Armee, der Presse und der Polizei alle Errungenschaften der gewerkschaftlichen Organisation arbeitender Klassen in Europa seit Lasalle binnen 15 Monaten ab. In Westdeutschland sucht sich die Föderation der Landeskriminalämter einen Feind, der ein BKA endlich sinnvoll und die Idee der Landesverteidigung durch Polizeikräfte überhaupt zweckmäßig erscheinen lässt. Solange Ohnesorg einfach so seine Meinung demonstrieren durfte und Bankräuber, die Landesgrenzen mit Alpha Romeos überqueren konnten allein von Landespolizei verfolgt wurden, solange sicherten die Alliierten gegen Hitlerdeutschland was in der Bundesrepublik Recht und Ordnung war. Herr Baader und Frau Meinhof taten Deutschland den Gefallen und forderten Schleierfahndung, Datenabgleich, ein Gesetz der Bundesregierung zur Koordinierung lokal ermittelter Erkenntnisse überregional aktiver Straftäter. Außer Baum, Schily, Baader, Strauß und Schmidt wusste keiner, was das heißt: Die Gefangenen sind befreit, die Terroristen tot. Und wg. Selbstmord, es lebe der Polizeistaat und es lebe die taz und junge deutsche Schriftsteller, die den Polizeistaat kontrollieren, für Suhrkamp, fragt Dr. Helmut Kohl. Der wusste auch Bescheid und noch viel mehr. Aber er sagt ja nichts. Das hat er doch versprochen. Und in Polen schrieen die Katholiken Hallo, hallo, wir sind auch noch da. Und in Rom wurde im dritten Wahlgang mit einem Toten endlich doch der Pole Papst. Damit wir uns recht verstehen, Dummermann. Wenn ich dir so was schreiben soll, wie diese Brandon-Hurst-Story, referiere ich eine kulturelle Sichtweise für europäische und anglo-amerikanische Käuferschichten. Dass die Nigger und Schlitzaugen in diesem Zusammenhang nur mit dem Wort „bunt“ erwähnt werden, wenn überhaupt, sollte zwischen uns beiden kein Thema sein. Die Brandon-Hurst-Story, eigentlich ein ganz passables Leben. Dass er es auch noch selbst führen musste, war natürlich eine andere Geschichte. Nicht alles was sich super anhört, fühlt sich auch so an.

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