Dienstag, 3. April 2007
Fortsetzung – Schlechter Stern über Leipzig (II)
Brandon Hurst fühlt sich nicht gut auf seinen ersten Kilometern durch das vollkommen wirkende thüringische Elend.
Doch er nimmt die Herausforderung an, obwohl er natürlich weiß, dass er den ihm gleich hinter Thüringen bevorstehenden Kampf um etwas Geld und zweifelhaften Ruhm nicht anders als auf ganzer Linie verlieren wird. –
Trotz alledem! Was für ein Himmel! So beschissen sah noch kein Himmel jemals aus. Erfurt liegt wie ein toter Fisch vor ihm. Die angebliche Stadt Erfurt droht jeden Moment von einer geschlossenen Wolkendecke in den Erdboden gedrückt zu werden. Einzig die aus dem kargen Land herausragenden Hochspannungsmasten scheinen sich dem sicheren Untergang noch ein wenig widersetzen zu wollen, doch auch das sich Recken dieser Erfurter Masten wirkt hier nur scheinbar und wie ein letzter fürchterlicher Hohn. Wer hier lebt ist verloren, und sie schaffe es nie.
Von einem übergeordneten, man kann ruhig sagen, ethisch-moralischen Standpunkt aus betrachtet, – doch den hatte sich Brandon Hurst längst abgeschminkt. Zu übermächtig war der Zauber dieser so wahren Katastrophe Thüringen.
Kein Gebäude wirkt älter als zehn Jahre; keine Straße, die nicht frisch asphaltiert wäre und in ihrem schwarzen Glanz doch nur Dunkelheit abstrahlt und an ein lange schon zurecht vergessenes Mittelalters stumm ermahnt. –
Frustriert und ruiniert und völlig demoralisiert. Das war sein Zustand. Mehr gab es dazu nicht zu sagen, sagte sich Hurst bei sich. So war die Lage. Er saß im Zug.

"Durchgeknallt"
Erster Preis: 500 Euro, zweiter Preis: 300 Euro, dritter Preis: 200 Euro (Bitte nachfragen, ob die Reisekosten für die drei FinalistInnen vom Veranstalter übernommen werden! - S.U.) Eingereicht werden können bisher unveröffentlichte Texte jeder Gattung in deutscher Sprache. Sie dürfen einen Umfang von insgesamt 8 DIN A-4-Seiten (je 30 Zeilen à 60 Anschläge pro Seite, einseitig beschrieben) nicht überschreiten. Jeder Einsender kann nur einen Text, der nur mit einem Kennwort (nicht Durchgeknallt) gekennzeichnet ist, einreichen. Bei mehreren Zusendungen (auch unter Pseudonym) wird die gesamte Bewerbung nicht gewertet. Die Texte müssen zudem in 4-facher Form eingereicht werden. In einem zweiten, verschlossenen Umschlag, auf dem nur das Kennwort steht, bitte Adresse, Telefon/Fax-Nummer, ggf. E-Mail-Adresse, das Kennwort, eine Übersicht der bisherigen literarischen Veröffentlichungen (Auswahl) sowie eine Kurzvita (höchstens 12 Zeilen) beifügen.



Mehr über Thüringen
So verfolgt der Reisende also Thüringen von seinem Sitzplatz im ICE aus, und so stellt sich ihm unvermittelt die Frage, wer hier freiwillig lebt, und er fühlt sich an Orte wie Mannheim erinnert, Hagen, Göppingen oder Osnabrück. Aber anders als in Mannheim oder Osnabrück, wo sich vergleichbares Unheil durch Tradition, sei es einer binnen Jahrzehnten verfallenen Industrie, sei es einer des dreißigjährigen Krieges erklären ließ, sieht das Elend Thüringens brandneu, wie gerade eben hergestellt aus.

Und obwohl es gerade Abend werden wollte, schien Brandon tatsächlich eine besondere, ganz eigentümliche Dunkelheit hier aufzufallen, wie eine spezifische Finsternis nicht nur des Asphalts im Osten, eine Schwärze, die ihn an Pech denken ließ und an aus Pech gemachte Menschen. Selbst auf den leeren, so unendlich groß und sinnlos angelegten Parkflächen der Einkaufszentren, deren scharf gezogene Markierungsstreifen im fahlen Neonlicht erstrahlten, fiel ihm vor allem auf, wie dieses ungeheuer tiefe Schwarz jeden anderen, selbst auch nur denkbaren Farbton vollständig zu beherrschen, ja zu ersticken, vollkommen auszumerzen schien. Bemerkenswert auch, dass weder Passanten noch Bewohner sich an den mehrspurig ausgebauten Fahrbahnen, auf den Straßen oder den zwischen meist eng stehenden Häuserzeilen hindurchführenden Wegen sehen lassen wollten.

Zeigten sich dann doch einmal ein Erwachsener oder kleinere Gruppen von Senioren, vereinzelt auch Kinder auf dem Gehsteig einer Martin-Luther-, Bärbel-Boley oder Friedrich-Ebert-Straße oder in einem grundlos westdeutsch eingerichteten Vorgarten, war es, als wollten diese Leute den Blick des Reisenden sofort mit unglaublich fahrigen, sofort an Verbrechen mahnenden Bewegungen fliehen.
Was war mit diesen Menschen los? Hatte sie die Regierung traumatisiert, wie es seit Wochen Berichte der Tagespresse nahe legten? Wahrscheinlich fürchten sie wirklich, von Mitarbeitern ihrer für sie vorgesehenen Arbeitsagenturen umgehend verhört, verschleppt, geknechtet zu werden; so sahen sie aus, gaben sie sich, und sie lebten ja alle von der Stütze. Oder waren sie so, die Thüringer? Misstrauische, von klein auf ungesellige Leute, denen das Leben seit Generationen übel mitspielt, die nichts anderes kennen als Missgunst, Vorsicht, Angst. Verglichen mit den Thüringern kamen ihm nun selbst die Bewohner des seit Jahrhunderten schwer gebeutelten bayerisch-tschechischen Grenzgebietes am Fuße des Arbers, die Brandon anlässlich einer Recherche für einen Werbejob kurz nach dem leidigen Mauerfall aufsuchen musste, beinahe weltoffen, durchaus zugänglich vor.
Andererseits: Nietzsche schreibt an einer Stelle seines Ecce Homo, er sei – – – „Thüringer“. Dann kam die Nacht.

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