Samstag, 20. Oktober 2012
MATeriAL "Revolutionäre Anregung einer ersten benutzerfreundlichen Trigonometrie"
so was ähnliches wie die experimentelle Fortsetzung von Aktionismus, Happening-Art und Situationismus mit anderen Mitteln sei, nämlich ohne Aktion, Happening, existenzialistischer Kunstphilosophiererei und dem dabei unvermeidlichen Künstler-Gruppen-Getue konzipiert, dafür mit einer schlingensiefistischen Skrupel- und Rücksichtslosigkeit umgesetzt, und dass Neo Rauch schon lange darauf wartet, dass endlich jemand diese im Kontext seiner bisherigen Arbeit wirklich skandalös dumpfen Einlassungen in die gedankenlosen Abgründe schriftlich fixierten Biedersinns made in Germany auch endlich als solche zur Kenntnis nimmt und nebenbei vielleicht auch würdigt, dass der zur Zeit amtierende Chef de Gemälde, Chef der Leipziger Nazarener, Chef jeder Nationalgalerie von hier, München, bis rüber nach Wladiwostock bzw. Porto, dass dieses inzwischen von jedem Depp dieser Welt als ernster Maler bekannte Kind der DDR nicht nur genau das alles ist, und zwar völlig zurecht, sondern dazu eben auch und vor allem Humor und Witz hat, und zwar viel mehr, als sich zum Beispiel ein SZ-Redakteur überhaupt vorstellen kann, und Neo Rauch also wirklich Künstler ist, ganz ernsthaft, nicht nur in infantiler Pose wie die Meeses oder ein Hirst, ein Kelly oder Daniel Richter, die ihre Einfälle und Kreationen anstatt als Künstler genau so gut als Webdesigner, Werbegrafiker oder halt in den Bereichen Therapie und Pädagogik oder Eventmanagement hätten unterbringen können – was heißt „hätten können“? Seit diese Jungs am Markt sind und die Szene dominieren, hat der gesamte Betrieb sich praktisch in genau diese pittoreksen Bahnen verrannt, oder, Herr Oehlen, Herr Diederichsen, Herr Büttner, wie sehen Sie, was in Ihren Fußstapfen seit Jahren vor sich hin netzwerkelt und außer für Geld (Miete, Gas, Strom) praktisch nur noch für das Renommee einer abgewirtschafteten Hauptstadt Reklame macht?

Doch. Ich hoffe wirklich, dass hinter diesen Gemälden kein weiterer harmloser deutscher Maler steckt, der sich offenbar noch nicht mal zu blöd ist, mit dummdeutschen Dichterdeppen zu fraternisieren, denn es wäre wirklich schade um die Kunst. Wo hat man das schon, dass auf wirklich jedem Quadratmillimeter wirklich was los ist, sogar auf den scheinbar nur leeren farbigen Flächen? Wo sonst sieht man, dass da jemand nicht nur kapiert hat, was Algorithmen sind, und dieses Wissen mühelos in Motive, Komposition und Narration seiner Bilder umsetzen kann, sondern darüber hinaus auch noch bislang völlig unbehelligte Strukturen fraktaler Perspektivität deutlich macht und als ob das nicht allein reichen würde für zehn Jahre Beschäftigung und Analyse dazu ganz klassisch mit jedem Bild einen völlig eigenständigen, völlig trifftigen Aspekt unserer Gegenwart nicht nur irgendwie theoretisch skizziert, bezeichnet, bedeutelt, sondern in Geschichte umsetzt und dann praktisch einfach erzählt, freilich mit allen zur Zeit bildnerisch zur Verfügung stehenden Mitteln vom einfachsten Zitat bis hin zum hoch komplexen aprupten Abbruch der Pinselführung, wenn das Motiv an genau dieser Stelle und sei es die Zentrale eben nichts anderes als das ultimative Ende des bis dahin ebenso ultimativ geforderten Schwungs verlangt. Und das unglaublich souverän nicht nur im großen Format, sondern wie gesagt, und wenn’s sein muss dort erst recht, auch im Mikrobereich nicht mal eines Quadratzentimeters jeder Arbeit. So. Und obwohl mit diesem ersten kurzen Blick schon sehr viel mitgeteilt ist, sind wir noch nicht mal annähernd bei der Betrachtung der Farben, ganz zu schweigen der Themen dieser Malerei. Aber dazu später.
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Zur Unterschicht: Die etwa 200 Millionen neuen Paupers Westeuropas ließen sich nicht mehr mit dem kritischen Besteck der politischen Ökonomie sezieren, da sie sich im Unterschied zum klassischen Industrieproletariat, in mehreren für sich jeweils kontingente Existenzweisen präsentierten, die sich sowohl vertikal als auch horizontal über die gesamten Spektren sozialer, ökonomischer und politischer Selbstvermittlung erstreckte.

Die im Journalismus wie in der Sozialwissenschaft gängige Praxis, die neue, nicht klar definierbare Klasse als Verlierer systemimmanenter Modernisierungsschübe zu definieren, ist insofern ideologisch motiviert, als damit die politischen, ökonomischen und sozialen Potenziale, mit anderen Worten, das historische Dispositiv ausschließlich nach den Maß- und Vorgaben kapitalistischer Systemkontrolle problematisiert werden kann. Dieses sozialtechnische a priori bestimmt alle Systeme und Verfahren gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung. Es durchdringt die Diskursregeln zeitgenössischer Künste ebenso wie die Programmierung der demographischen, soziologischen und politischen Diagnostik, die die medialen Rohstoffe informativer Selbstvermittlung produzieren.
So erscheint beispielsweise soziale Praxis im Zeichen fortschreitender Individualisierung als bloßer Ausdruck des Mangels vermeintlich ursprünglicher Formen familiärer oder milieubezogener Bindungen – gleichwohl Institutionen wie Familie, Milieus oder ähnliches längst nur mehr als mediale Simulationen, als fiktive Kulisse realer Lebenswelt existieren.
Bergriffe wie Elternschaft, Familie oder eheliche Partnerschaft sind längst als Phrasen konservativer Ideologie entlarvt, die darüber hinwegtäuschen, dass die durch sie erstmals erfasste Institutionalisierungs gesellschaftlicher Selbstreproduktion längst im Bewusstsein individueller Singularität vollzieht. Niemand, außer einer Familienministerin, glaubt an die Werte familiärer Bindung und ihrer fürsorgenden Wirkung, am wenigsten die, die es als ihren Alltag erleben konnten oder aktuell erleben. Als Reservoir und Kompensation der aufzuwendenden Kosten eines kleingewerblichen Betriebs oder den Erhalt einer auf Lohnarbeit angewiesenen Erwerbsquelle mag die bürgerliche Familie auch heute noch produktiv wirken, ohne diesen ökonomischen Grund, allein auf sich und ihre Legitimationsgrundlagen gestellt, wirkt sie als permanente Ausübung eines sinnlosen Rechts willkürlicher Gewalt und ist die Hölle für alle Beteiligten.

Fast alle positiven Entwicklungen in den Bereichen Pädagogik und Bildung fanden nicht in oder mit der Familie als entscheidender Instanz statt, sondern trotz ihrer erwiesenen Dysfunktionalität.

Die in der Sozialwissenschaft wie in der Meinungspresse elaborierte Generation Praktikum, der fest angestellte, im Sozialversicherungssystem verankerte VW-Mitarbeiter, die Hartz Klientel, die völlig von staatlichen Transferleistungen abhängigen Alleinerziehenden treten zwar in ihrer Rolle als illustre Protgonisten in der politischen Diskussion in Erscheinung, als wirtschaftliche und gesellschaftliche Wirklichkeit gibt es sie freilich nicht. Die Generation Praktikum beispielsweise kann nur in unmittelbarer Wechselwirkung zu den Normalarbeitsverältnissen existieren, da die prekären Arbeitsverhältnisse der durch sie bestimmten Akteure fiskalische Kompensation via Alimentierungsleistungen (Familiensponsoring) als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzen.

Unter diesem Blickwinkel relativiert sich auch die vermeintlich überdurchschnittlich hohe Einkommenslage und fiskalische Potenz der aktuellen Renten- und Pensionsbezieher. Deren wirtschafltiche Mittel sind – so sie nicht überhaupt als Schimäre ideologischer PR-agenturen ufzulösen sind – längst fester Bestandteil der Ausbildungs- und Erwerbskonzepte der ihr nachfolgenden Kohorten. Andererseits lässt sich der Wertbestand des Normaleinkommens der Mittelklassen nur mehr in Gestalt jenes symbolischen Kapitals decken, das nur mehr der eigene Nachwuchs repräsentieren kann, da sich Alternativen der zunehmend beschränkten Leistungsfähigkeit zunehmend entziehen. Selbst ein promovierter Ingenieur kann es sich nicht mehr leisten, eine ihn zufrieden stellende Existenz auf dem Weg des Konsums wirtschaftlich werthaltiger oder auch nur sozialstatusträchtiger Güter zu sichern. Seine Kaufkraft endet bei der Sicherung der Reproduktionsfähigkeit seiner Arbeitskraft – schon Kauf und Unterhalt eines Fahrzeugs, dessen Gebrauchswert jenseits diese Sphäre beginnt, übersteigen seine Fähigkeiten.

Trotz oder gerade aufgrund der mit der staatlichen Reformpolitik eingeleiteten Auflösung der bestehenden sozialpolitischen Sicherungssysteme und den sie flankierenden Strategien seitens bürgerlicher Ideologen jeder Couleur, den politischen Einfluss der abhängig oder freiberuflich Beschäftigten möglichst zu eliminieren, um ihre Produktivkraft gemäß ihrer konjunkturel wechselnden Interessenlage verfügbar zu halten, gilt es daran zu erinnern, dass jener enorme Reichtum an Infrastruktur, Konsumgütern und Technologie sowie der relative Wohlstand nicht allein als soziale Errungenschaften interpretiert werden, die nach Kassenlage auch wieder eingeschränkt werden könnten. Die allgemeine Prosperität ist kein verhandelbares, auf politischen Entscheidungen beruhenden Ergebnis, sondern unbedingter Bestandteil der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Die medizinische Grundversorgung, ein umfassendes Bildungs- und Informationsangebot, zur freien Verfügung bereitstehende Verkehrsmittel sind wie die Lebensmittelversorgung und ein ausreichender Wohnraumbestand Bestandteil der Natur (der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit inkl. Flora und Fauna) und erscheinen nur unter dem Gesichtspunkt ihrer kapitalistischen Verwertung als Güter, deren Knappheit ihren Wert bestimmt. Jenseits dieser moralischen Betrachtung ist der gesellschaftliche Reichtum nichts anderes als der aktuelle Standard gesellschaftlicher Selbstreproduktion, der letztlich auch nur deshalb ideologisch zur Disposition gestellt werden kann, weil er faktisch gegeben ist. Wäre dem nicht so, und der Wohlstand also nur eine abhängige Variable...

Tatsächlich zielen die reaktionären Strategien der Neoliberalen auch nicht mehr nur auf die Momente der Aneignung und Verteilung des Sozialprodukts, sondern auf seinen unmittelbaren Bestand: Von der Privatisierung genuin gesellschaftlich produzierter Werte wie der Verkehrs-, Informations- und Energieversorgungsnetze über die Reprivatisierung der seit 45 unter staatlicher Regie aufwändig modernisierten Schlüsselindustrien insbesondere des Finanzwesens bis hin zur Gestaltung nationaler Entwicklungsprogramme in Forschung und Wissenschaft – es geht immer auch und vor allem darum, den gesellschaftlichen Zweck der jeweils vermittelten Werte und Güter zu negieren, um sie dem Kalkül kapitalistischer Verwertung gemäß dem privatwirtschaftlichen Geschäft zu öffnen.

Noch zu erläutern: Grundsätzlicher Unterschied zwischen klassischen Industrie-Gütern (stoffliche Waren, Dienstleistungen) und den Produkten der Informationstechnologie, der die Warenform sprengt, besteht in der Eigenschaft der digitalen Waren, die in ihr vermittelte Produktivkraft im Moment der Anwendung (Konsum/Produktion) nicht an den Konsumenten/das zu produzierende Produkt entäußert, die digitale Semmel kann unendlich oft verzehrt werden, ohne zu verschwinden, der digitale Kuchen gewinnt an Volumen, Größe und Umfang, je höher die Zahl jener, an die er verteilt wird.

Digitalität setzt Informations-Vermittlung (Kommunikation) als Bedingung, nicht als ihr Ergebnis voraus

Schröder im taz-Blog. Immer wieder gut. Offenbar ist er inzwischen der einzige, der es noch schafft, die Gegenwart aus ihrer politischen Ökonomie heraus zu beschrieben ohne den Leser mit blöde zusammengereimten Psychologien von Handlungstreibenden zu belästigen. Seit Goetz so gnadenlos abkackt und zum Hausdeppen der Berliner Republik heruntergekommen ist, kennt die hiesige Gegenwartsliteratur außer förderpreiskompatiblen Sprachspielchen (Grünbein, Schrott, Jelinek und seit kontrolliert eben auch Goetz) nur noch geschmackvoll deformierte Psychen. Ich kenne keinen einzigen in den letzten zwanzig Jahren in Deutsch erschienenen Fetzen Belletristik, egal ob als Erzählung, Novelle, Roman oder weil ansonsten völlig sinnlos eben als Textvorlage für Hörfunk, Fernsehen und Bühne ausgegeben, der nicht dumpf dem Muster einer Familienaufstellung folgen würde und in dem mir nicht ausnahmslos Idioten begegnet wären, deren idiotische Probleme ich dann entweder als das schlechthin abgründig menschliche oder den aktuell angesagten Diskursschlager oder eben beides, respektieren sollte.
Bei Typen wie Walser oder Händler, die immerhin noch so tun, als interessierte sie beim Schreiben, was zur Zeit um sie herum passiert, und nicht ausschließlich der kürzeste Weg zur gerade offenen Stadtschreiberstelle oder das Jahresstipendium, kommen freilich auch die Wirtschaft und das Geld nur als angelesene Gerüchte vor.

Wem wollen Sie beibringen, dass die Bürger des sogenannten III. Reiches den Zweiten Weltkrieg verloren haben? Wem wollen Sie erklären, dass die industrielle Massenvernichtung von Menschen eine –. Wem wollen Sie erklären, dass es keine Kunst ist, sondern Aufklärung, den Leuten zu erklären, dass die Bürger des sogenannten III. Reiches den Zweiten Weltkrieg verloren haben?

Neues von der NPD. Nachdem sich die deutschen Demokraten 50 Jahre vornehm zurückgehalten haben, fangen sie neuerdings an, den Nazis das Erbe streitig zu machen. Wo bis vor fünf Jahren noch Konsens herrschte, mit so was nichts und wenn überhaupt, dann nur strikte Gegnerschaft zu tun haben zu wollen, sind plötzlich andere Töne zu hören: SS? Sollte man nicht alle über einen Kamm scheren, siehe die Zwiebel. Jüdische Kriegstreiberei und Bolschewistisches Unwesen? Sollte man nicht den ewig Gestrigen überlassen, siehe Frieden im Nahen Osten, siehe Putins stalinistischen Daumen auf „unserem“ Gas. Arbeitsdienst und Leistungsmissbrauch, siehe Fördern und Fordern mit Hartz IV. Oh doch, an der Gegnerschaft zur NPD ¬ – andererseits: ein kurzer Blick auf das Spätwerk Picassos genügt und es ist völlig und ohne jeden Zweifel klar, dass die Kunst eines Warhol und noch viel mehr die der Koons, Walls und Hirsts mit Kunst nicht das geringste mehr zu tun hat. Warhol war viel mehr und im Wesentlichen Autor und Bürger der USA und nur in diesen Funktionen auch Produzent. Staatsbürgerschaft als Würde und Privateigentum als Amt –

Revolutionäre Anregung einer ersten benutzerfreundlichen Trigonometrie. So sollte der Aufsatz heißen. Oder so ähnlich. Schließlich mochte ich ihn nicht zu Ende schreiben.

Benutzerfreundlichkeit, also die möglichst einfache Darstellung einer beliebigen Information, unabhängig von ihren inhaltlichen und formalen Bedeutungs-Funktionen, scheint das Neue Ding zu werden. Mit der täglich exponentiell wachsenden Perfektionierung der software werden in absehbarer Zeit etwa 90 Prozent aller zur Zeit gebrauchten Algorythmen schlicht aus dieser Welt verschwunden sein und wenn überhaupt nur noch in staatlichen Museen neben den ersten Steinwerkzeugen vor sich hin verstauben, allen voran die seit etwa 4000 Jahren akkumulierten Verfahren des Lesens, der Navigation oder der Spenglerei. An den Stellen ihres Verschwindens werden dann wahrscheinlich wieder Techniken des optimalen Gehens, Sitzordnungen, Kuschelmaximen und ähnlich brauchbares Wissen erscheinen und damit eine Kultur, die keine Abstraktion, keine Differenz mehr kennt, eine Renaissance der Veden, erfüllt von der Idee brutaler Abrichtung und heiliger Einfalt. Diese Comebacks des Koran und verwandter Schriften in die Top Hundred der Weltliteratur ist wahrscheinlich nur ein harmloses Vorspiel dieser drohenden ganz neuen Barbarei.

Nächste Idee: Endlich einen einwandfreien Algorithmus der Identität formulieren, siehe Freege.


München, Rumfortstraße, erstellt am 18. Januar 2007; als das Internet noch kein Massenmedium war, sondern bloß eine neue Technik die so oder so ge- und benutzt werden konnte.

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