Freitag, 12. April 2013
"SCHLECHTER STERN ÜBER LEIPZIG" – Auszug
Buch I Kapitel 3 – Stumme Zweifel –

Während seiner ersten Fahrt in einem ICE von München nach Frankfurt - er sollte in Frankfurt den Verleger Dummermann treffen, um zu erörtern wie die Verlagswerbung den seit Hartz-IV wieder in Mode gekommenen Trottel-Protestantismus in den so genannten neuen Ländern am besten für sich nutzen könnte - hatte sich ein erster stummer Zweifel erst nur am Sinn einer damals schon dann und wann, wenn auch nur als irrwitzigen Scherz erwogenen Lese-Reise, und warum nicht auch bis nach ganz hinten unten eben Leipzig aufgeworfen. Brandon Hurst hatte damals – wir sprechen von der Endphase der Herrschaft einer rotgrünen Regierung des Staates – seinen Wagen aus finanziellen Gründen abmelden und verkaufen müssen, exakt formuliert hatte Brandon ihn einen Tag vor besagtem Verlags-Termin verkauft. Übrigens weit unter Wert, denn er brauchte dringend Geld und konnte um den Preis deswegen nur schlecht bis gar nicht verhandeln.

Und er war es auch nicht gewohnt, mit der Bahn zu fahren, dann, wenige Tage später: Noch schlimmer als der erste Eindruck in diesem ICE erschien ihm nur die Vorstellung, voraussichtlich und wenn kein zeitnahes Wunder geschehe (bestimmte Lottozahlen) sehr bald nicht nur die paar Stunden von München nach Frankfurt, sondern tage- ja wochenlang in so einem Zug und auch noch nach und durch Ostdeutschland zu reisen.

Wieder später, sehr viel später, nun vor dem Schalter des Münchner Hauptbahnhofes, als er sich über die für seine ausgemachten Ziele günstigsten Verbindungen und Bahn-Tarife Klarheit verschaffen wollte, ahnte er erneut und nun freilich sehr deutlich, dass sehr wahrscheinlich tatsächlich schwer zu ertragen sein würde, worauf er sich mit Dummermann eingelassen hatte, aber letztlich war es natürlich "seine Entscheidung" (Dummermann). Praktisch hatte er natürlich keine Wahl. Aber wem sagte er das? Er musste doch fahren, brauchte ja dringend und unbedingt schon wieder Geld, auch und ironischerweise nicht zuletzt, um Dr. Heckle, eine ihm an und für sich seit Jahren ebenso symphatisch wie ihm wohlwollend erschienene Frau möglichst erfolgreich davon abzuhalten, ihn wegen längst überfälliger, schon mehrmals zur Zahlung angemahnter Mietzinsen aus seiner Wohnung im vierten Stock eines im klassizistischen Stile erbauten Anwesens an der Frauenstraße direkt gegenüber dem Viktualienmarkt zu klagen, wie ihm eine Anwaltskanzlei mit Gerichtsstand Augsburg, wo Frau Dr. Heckle mehrere Brauereien besaß und von dort aus (Augsburg) neben mehreren ringsum den Viktualienmarkt gelegenen Gebäuden auch noch mehrere weitere, noch größere Immobilien in ähnlich zentralen Premiumpreislagen der Münchner Alt- und Maxvorstadt professionell bewirtschaften und von Leuten wie diesen Anwälten verwalten ließ, schriftlich mitteilte, – und es war doch eine gute, eine neue Chance, wie Dummermann auf dem Römer gesagt hatte.

Von ihm kam die Idee, kurz gesagt. Dummermann hatte ihm dazu auch noch vorgeschlagen – aber da waren nach dem vorzüglichen Dessert sozusagen auch die vorzüglichen Käse des sich über insgesamt sechs Gänge erstreckt habenden selbstverständlich insgesamt vorzüglichen Arbeitsessens in Dummermanns Stammlokal auf dem Römer am Ende der Fressgass praktisch auch metaphorisch, das heißt bildlich gesprochen, längst gegessen – die gesamte Organisation der Lesungen von seinem Frankfurter Büro aus in die Hand zu nehmen, wenn Brandon das wollte und für sinnvoll halten würde.
„Es ist nur ein Angebot“, hatte Dummermann schon während der Suppe (Spargelcreme ohne Einlage) gesagt, und „bitte“ gefolgt von „aber überleg es dir gründlich, Brandon“, denn es sei ja ganz allein seine "Entscheidung" (das Zauberwort fiel, als der Guakamole-Auflauf serviert wurde, Dummermann hatte wie gewohnt das Essen bezahlen wollen und "schließlich bin ich Verleger, ich kenne mich aus" für sie beide bestellt), als ob Brandon in seiner Lage fähig gewesen wäre, sich auch nur einen Moment lang etwas zu überlegen, und das auch noch gründlich. Er war ganz einfach am Ende, auch psychisch. Das war die Lage. Und genau genommen auch der alleinige Grund, besser gesagt, die einzige Erklärung, warum er sich dann zum Beispiel nur wenige Wochen nach diesem Treffen und Essen und dieser "Beratung" (Dummermann; im Buch schrieb dann Brandon natürlich fiktionalisiert und verkappt von "Erpressung"), wie der sprichwörtliche Ochse vor dem Berg frühmorgens im Hauptbahnhof München vor einem Schalter der Deutschen Bundesahn AG wieder- nein, nicht zurechtfand und vorkam.

Zu schwach und zu lustlos, die Angaben der Angestellten in Frage zu stellen, ihren Ausführungen gar offen zu widersprechen, hatte sich Hurst von einer Dame an diesem ihm von einem für Informations-Service zuständigen und wie Hurst augenblicklich dachte „dummerweise privatisierten Eisenbahner“ zugewiesenen Schalter eine sogenannte Bahncard aufschwatzen lassen. Als er das Antragsformular in Händen hielt, zusammen mit etwa 15 losen ausgedruckten Seiten des Zentralcomputers, die ihm über das genaue Wann und Wo der Abfahrten und Ankünfte der Züge exakte Auskunft geben sollten, spürte er nicht nur ein wenig, sondern praktisch mit seinem ganzen Körper, dass etwas nicht in Ordnung war, und zwar nicht nur in und mit ihm nicht in Ordnung war, sondern überhaupt nicht in Ordnung war. Denn nicht nur – um diese leidige, doch letztlich nebensächliche, verglichen mit dem was daraus folgen sollte ja durchaus harmlos, beinah läppisch wirkende Passage dieses Themas, will sagen, dieser verfluchten Reise und dieses Lesens in diesen Rechts-Schreibvorschulen mit ihren Preistexterkitas im neuen deutschen Osten endlich mal abzuschließen und endlich zu vergessen – in diesem ihn bis auf zwei Euro siebzehn Cent sein letztes Bargeld kostenden Handel witterte er Betrug – mehr als Betrug, ahnte er Schlimmeres, als bloß über den Tisch gezogen zu werden, sondern irgendwie (tief) hinunter, fühlte sich selbst auch unvermittelt abwärts gezogen, gesogen, gesaugt o. Ä. in etwas hinab und hinein jedenfalls, nein, vielmehr ganz stark hinunter gesogen was sich gleichzeitig gleichsam auch gleichsam gleichzeitig in ihm wie ein Abgrund, oder wie ein Fall, oder so ein Absturz, also wie so ein schräger, schlechter, nein, in diesem Moment konnte Brandon Hurst natürlich noch gar nicht wissen, geschweige denn klar oder auch nur deutlich, oder auch nur undeutlich sagen, was ihn in den kommenden Monaten erwartete und am Ende beinah auch ums Leben gebracht hätte, wenn ganz am Ende nicht diese fremde blauäu-, kurzum: 'Es ist sehr gut möglich, dass dieser sonderbare Titel und mit ihm der auch für Branchenkenner bis heute unerklärliche Erfolg dieses kurioserweise letztlich gar nicht in der BRD, sondern in den USA, Frankreich, den Staaten der russischen Föderation sowie last not least Estland verlegten und in erster Hand herausgegebenen Buches (SCHLECHTER STERN ÜBER LEIPZIG) sich auch und auch gerade aus diesen Momenten speiste (spieß? spie? Anmerkung Memo: Schlussredakteur wg. Kanzlei-Stil und diesen Vergangenheitsverbformen fragen!)

Schon die Idee! Schon die Idee, in den Osten zu fahren, um bestenfalls 1000 Euro in Leipzig, etwas weniger in Erfurt und vielleicht auch in Gera das vom ortsansässigen Kunstverein ausgeschriebene Preisgeld abzugreifen, roch von vorn herein ungut. Brandon konnte nur noch den Kopf schütteln. Sagen konnte er dazu nichts mehr. Allein im Zug. Unter und eingepfercht zwischen Thüringern. Freilich, Gründe für seine Furcht, vielleicht in Erfurt oder Gera, spätestens in Leipzig für insgesamt nicht mal 3000 gleichsam in für ihn dort aufgestellte Fallen zu laufen, gab es im Vorfeld (Frankfurt) faktisch und offensichtlich keine. Vielmehr hatte sich Brandon wie übrigens sehr oft in diesen Wochen und Monaten (der Endphase der rotgrünen Regierung) gesagt, dass nur er selbst es sein konnte, mit dem bei dieser oder jener Sache (Stand und Würde von Frauen; Mietrückstandsfragen, berufliches Fort- und Weiterkommen, Verstand vulgo Verständnis und Begriff dieser unserer Welt en gros) etwas nicht stimmte, nicht stimmen konnte. Und Gründe nicht nur Anlässe (u.a. oft Streit), dies zu befürchten, gab es ja nun wirklich genug. (Rechnungen! Streit, aber das schrieb ich schon) Doch daran wollte Brandon (nun nach "München-Frankfurt und zurück" also schon wieder in so einem dummen Zug, diesmal aber ohne 24 Stunden Rückfahrticket und Chance in Richtung und damit in den Osten sitzend) nicht denken.

Sinnvoller war es, dachte er sich wahrscheinlich, (denn wie es in einem drinnen aussieht, geht erstens keinen was an, bekanntlich, und ist zweitens auch nur sehr schwer zu eruieren, nachträglich und von den Außenstehenden), das Bündel undeutlicher Zweifel und Bedenken mit der absolut unzweifelhaften Feststellung möglichst weit und breit zu zerstreuen, dass die Reservierung seines Sitzplatzes im Nachtzug doch geglückt sei, trotzdem es unmöglich war, sie telefonisch vier Stunden vor der Abfahrt zu bestätigen, was die andere Schalterdame, welcher der ersten Beihilfe leistete bei ihrem Verkaufsgespräch nach Abschluss des Handels geraten hatte, wenn er, wie sie es – nicht ohne Süffisanz und dazu eine Redewendung Brandon Hursts in schier beleidigend nachklingender Herablassung wiederholend – formulierte wirklich auf Nummer sicher gehen wollte.

Auf Nummer sicher gehen. Wollte er das wirklich? Jedenfalls hatte er diese teure – und wie sich herausstellen sollte – für seine Zwecke völlig nutzlose Bahncard bei sich sowie ein modernes Aufzeichnungsgerät, um seinen Weg zu machen. (...)



Aus: SCHLECHTER STERN ÜBER LEIPZIG, 2005/6, für THE GREAT GATE etwas überarbeitet, copyright AOtteneder, Kontakt siehe Impressum

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