Samstag, 30. März 2013
DIEDRICH DIEDERICHSEN – KÖLN, 1991
the great gate, 21:11h
Interview, geführt am 12.Oktober 1991 in Köln (P. Kessen, A. Otteneder, M. Posset)
Junge deutsche Autoren
FRAGE: Anfang bis Mitte der 80er scheint es eine eine enge Verbindung zwischen Musik und der zeitgenössischen Literatur, hauptsächlich junger deutscher Autoren gegeben zu haben. Ob das jetzt, ganz simpel zum Beispiel bei Glaser, der also eine neue Art von Literatur schaffen wollte, über das Sujet ging: neue Wirklichkeiten - oder unmittelbar über Personen, wie dem Meinecke oder in den Texten von Rainald Goetz. Diese Verbindung scheint unterbrochen und überhaupt kein Thema mehr zu sein. Kann man das so sagen und wo können die Gründe dafür liegen?
DIEDERICHSEN: Tja, das weiß ich nicht. Also, ich weiß nicht, ob diese Verbindung unterbrochen ist. Und vielleicht war sie nie besonders stark. Eine ziemlich platte Erklärung ist natürlich die, daß die Leute in einem bestimmten Alter einfach durch die Art, wie man hierzulande aufwächst, auch wenn sie kein besonderes Interesse haben, einfach mehr über Musik wissen und auch das was so läuft einigermaßen besser einschätzen können als dann, wenn sie sich spezialisieren als Schriftsteller, oder wie auch immer.
Und zur allgemeinen Lebenswelt gehörte dann auch das ein oder andere musikalische Zitat, der ein oder andere Bandname. Das taucht dann in irgendwelchen Texten auf. Das war aber nur ein Altersverständnis. In dem Maße, in dem sich die Musik immer weiter entwickelt, differenziert hat, haben sich diese entsprechenden Autoren nicht mehr so ohne weiteres getraut, dieses oder jenes Zitat, diesen oder jenen Bandnamen ohne weiteres zu erwähnen, weil sie nicht mehr wußten, was der ohne weiteres bedeutet im gegenwärtigen Kontext.
Wenn du jetzt bestimmte Autoren nennst, Meinecke etc., würde ich meinen, das hat auch viel damit zu tun, daß mittlerweile die Produktionszyklen größer geworden sind. In den frühen 80ern erschienen Lebenszeichen von nicht journalistisch arbeitenden Autoren in kleineren Abständen, so daß auch die Verbindung zwischen Musik und Literatur klarer war. Soweit ich beispielsweise über Meinecke informiert bin, ist der nun weiterhin mit beidem beschäftigt. Der hat wohl zuletzt bei Kiepenheuer dieses "Holz" gemacht und dann wieder eine Platte. Und ich weiß nicht, ob dann wieder ein Buch kommt und wieder eine Platte, wie da bei ihm die Rythmen sind.
Hinzu kommt natürlich auch noch, daß es in den frühen 80ern eine deutsche Musik gab, die sehr literarisch war. Weswegen man so was besser relaten konnte als heute. Das zeichnet sich aber auch wieder ab. Ich meine diese ganzen neuen Hamburger Bands von Kollossale Jugend bis Blumfeld, diese ganze L`arge d`ores Ecke. Das ist ja auch nicht nur implizit. Das bezieht sich ja auch stark auf alle möglichen Texte, die die gelesen haben. Und Diestelmeyer ist ein ausgesprochen - ich möchte mal sagen - poetisch denkender Mann.
FRAGE: Welche Autoren sind für dich heute noch interessant?
DIEDERICHSEN: Von der ganzen Bewegung die Rawums gemacht hat?
FRAGE: Nicht nur Rawums, sondern auf die ganze 80er Jahre bezogen?
DIEDERICHSEN: Ja abgesehen davon, daß der Rang von Rainald Goetz unangetastet geblieben ist, unangetastet bleibt die Jahre hindurch, habe ich dazu eigentlich nicht viel zu sagen. Das ist nie so mein Interessengebiet gewesen. Eigentlich nie - junge deutsche Literatur. Ich habe eigentlich immer ausländische, alte Non-Fiction gelesen. Oder ausländische neue Non-Fiction. Die auch.
FRAGE: Du hast mit Blick auf die Hamburger Szene gerade Bewegung gesagt. Siehst du jetzt in diesen poetischen, sprachlich orientierten Bands eine neue Generation kommen, mit der es wieder einen Schulterschluß von Literatur und Musik gibt?
DIEDERICHSEN: Wobei es bis jetzt nur innerhalb der Musik stattfindet. Ob das eine Bewegung oder ein Schulterschluß ist, weiß ich nicht. Aber es ist zumindest ein Kreis, der sich in vier, fünf Bands organisiert und ein Label hat. Wohl auch ein bißchen ausstrahlt anderswohin. Und insofern: Ja.
In Hamburg merkt man das immer sehr deutlich. Da ist das dann richtig im Gespräch. Hier (in Köln) kommt das immer nur an, wenn die mal auf Tour sind. Oder wenn man wieder einen trifft. Oder wenn die Popkom ist oder so.
Was in den frühen 80ern war, war in dem Sinn natürlich auch keine Bewegung. Denn diese ganzen Autoren, die in Rawums und Azus, wie diese diese Sampler alle heißen, veröffentlicht haben, waren ja auch - anders als die musikalische Szene, die schon bevor sie irgendwas veröffentlichte, über Fanzines einen Austausch hatte, oder sonstwie kommunizierte - untereinander überhaupt nicht verbunden. Die sind ja auch erst dadurch miteinander in Kontakt getreten, daß es diese Bücher gab. Und die wurden natürlich andererseits von Hubert Winkels, Helge Malchow und anderen Aktivisten zusammengestellt. Aufgrund der Beobachtung von diversen Einzelfiguren. Eine Gruppe war das ja nie.
FRAGE: Das Schreiben von Rainald Goetz hat sich stark verändert. Habt ihr Schwierigkeiten seine neuen Texte wie "Soziale Praxis" noch ins Heft zu nehmen? Womöglich sträuben sich da viele SPEX-Leser.
DIEDERICHSEN Darüber haben wir uns in seinem Fall nie Gedanken gemacht. Also er hat bei uns gewissermaßen ein carte blanche.
Also schon klar, die Leser reagieren anders auf die schwieriger gewordenen Sachen. Aber für uns wäre das nie ein Kriterium gewesen. Es ist auch sonst nur mit Einschränkungen ein Kriterium. Sonst könnte man ja sozusagen eine ganz andere Zeitschrift machen.
Es war halt so: In einigen Sachen, die er in den frühen 80ern bei uns gemacht hat, kamen erkennbare, für jeden Spex-Leser erkennbare Bezugspunkte vor. Es gibt diesen Text - wie ich finde einen der besten von Goetz - über Hanoi Rocks, wo einfach Hanoi Rocks alles mögliche sagen, das durch den Text gerechtfertigt, hergestellt oder montiert wird. Was aber eben Hanoi Rocks sagen. Und so kommt dann ein Zusammenhang her. Der ist bei "Soziale Praxis" schwerer zu erkennen für den Spex Leser. Deswegen hat sich das Echo da etwas gewandelt. Außerdem kommt dazu, daß eine Menge junge Leute als Leser nachgewachsen sind, die ihn nicht kennen und auch diese Geschichte nicht kennen. Aber, wie gesagt: Für uns wäre das nie ein Grund, einen Text nicht zu veröffentlichen.
FRAGE: Jörg Schröder - das ist jetzt eine andere Geschichte - hat neulich über Goetz gesagt, er wäre nach seinem Debut "Irre" immer schlechter geworden. Er wäre aufs Feuilleton reingefallen, also auf einen bestimmten, dort gepflegten Geniekult.
DIEDERICHSEN: Also, das ist eine oberflächliche Wahrnehmung. Das ist die Wahrnehmung vom Feuilleton aus. Die Wahrnehmung, ohne die Texte zu lesen. Also, ich glaube das nicht. Ich will hier nicht Urteile fällen, aber ich glaube nicht, daß Schröder sich da genug auskennt.
Verbrechen - Konkret - Spex - politische Subjektivität
FRAGE: Was mir bei der letzten Spex auffiel ist, daß einerseits Marcel Beyer relativ groß gemacht wurde und dazu diese amerikanischen Autoren, halt Ellroy dringewesen sind. Diese britischen relativen Hardcore Thriller. Die waren ja auch in Konkret eine Doppelseite.
DIEDERICHSEN: Merkwürdiger Zufall, finde ich auch.
FRAGE: Läßt sich das erklären, einerseits dieses Interesse für Amerika, diese Art zu Schreiben und gleichzeitig für den Beyer, der ja was ganz anderes macht.
DIEDERICHSEN: Also, das Interesse für das amerikanische Schreiben, diese Art amerikanisches Schreiben ist ja nun alt, ist ja nun eine Konstante in Deutschland seit - ich würde sagen seit den späten Fünfzigern. Also seit Gründung der Zeitschrift Filmkritik. Ich glaube das war so der erste Punkt, wo amerikanische Massenkultur umgewertet wurde. Wo zwar noch Adorno-Texte in der Filmkritik veröffentlicht wurden in denen noch der alte Kulturindustrievorwurf erhoben worden ist, aber dann plötzlich der Western anders gesehen wurde. Und entsprechend Chandler und Hammet anders gelesen wurden. Seitdem ist das eine Konstante. Es verändern sich nur die Autoren. Also es nimmt immer zeitgenössischer auf, was in Amerika läuft.
In den 50ern wurde ja nachgeholt, was zehn Jahre vorher gelaufen ist. Und die Zeitspanne ist halt geringer geworden. Heute setzt man sich mit dem Ellroy auseinander, der zwei Jahre vorher erschienen ist.
Die Kluft, die man wahrnehmen könnte, zwischen Marcel Beyer und James Ellroy ist ja vielleicht auch nicht so groß wie man auf dem ersten Blick denkt, wenn man betrachtet - um es mal ganz platt zu sagen - was oder wie sich der Unterschied Ellroy-Chandler auf den Unterschied Beyer-Brinkmann bezieht, die ja auch gleichzeitig von einer vergleichbaren Szene rezipiert worden sind.
Dann sind es zweimal solche Entwicklungsspannen, die gar nicht so dramatisch sind. Das aber beides nebeneinander läuft ist, wie man so sagt, typische BRD-Realität.
Also, man hat hier seine eigene, immer aus einer mit sich selbst nicht übereinstimmenden Fremdheit kommende Kultur und eine andere, die so tut oder die von außen wirkt, als wäre sie mit sich selbst einig, mit sich selbst identisch. Und die bewundert man natürlich. Die braucht man im Grunde ja, um sein eigenes, nicht mit sich selbst identisch sein, überhaupt wahrnehmen und ausgestalten zu können.
Beispielsweise in einem Text, wie in einem Buch von Marcel Beyer.
FRAGE: Dazu fällt mir diese Heterotropie-Vorstellung ein, dieser Gedanke eines zunehmenden Auseinanderfallens der Schreibformen, was ja immer betont wird, zumindest in der Konkret-Literaturbesprechung: Daß es eine Art von Schreiben gibt, die realistisch ist, illusionslos und auf jeden Fall noch einen ganz klaren Referenten hat und auf der anderen Seite also der Beyer steht mit seiner Kunstprosa, fast schon als Gegensatz dazu. Die in den USA momentan zu bemerkende realistische Art des Schreibens scheint es hierzulande zur Zeit nicht zu geben. Die wird wohl eher erwartet oder gewünscht.
DIEDERICHSEN: Ja, ich würde sagen, es gibt ein Hingezogensein, wie es natürlich immer ein Hingezogensein zu gewißen Idyllen gibt. Und die Vorstellung, man schreibe realistisch, ist natürlich eine Idylle. Denn man schreibt ja nicht realistisch. Auch Ellroy schreibt nicht realistisch.
Um seine eigene nicht idyllische Situation gestalten zu können, muß man natürlich, wie ich eben sagte, eine Vorstellung von einer zeitgemäß konkurrenzfähigen Idylle haben. Also in diesem Spannungsfeld von den beiden Vorstellungen findet dann alles andere statt, findet dann auch daß Musikhören statt, hierzulande, denk ich mal.
Ich persönlich habe mich nie so zu dieser amerikanischen Schreibweise hingezogen gefühlt, ich habe so was nie gern gelesen. Ich habe - und zwar Betonung auf gelesen - andere Produkte gelesen, die aus dieser selben Idylle hervorgehen, von sozusagen fortgeschritteneren Medientechnologien umgesetzt werden. Die durch diese Umsetzung dann die Differenz enthalten, die im Literaturvergleich die literarischen Techniken Marcel Beyers wären. Die hat mich mehr zufriedengestellt, als eine direkte Beschäftigung damit.
Ich finde auch, daß die direkte - mit der Tendenz zur gläubigen, oder wie auch immer zu identifizierenden - Beschäftigung letztendlich in so ein Wim Wenders-Dilemma führt. Oder in die Peter Handke-Probleme. Die haben das ja auch, sozusagen in der selben Zeit, vergöttert. Aber dann wirklich geglaubt, sie könnten genauso arbeiten. Und wenn Wim Wenders heute Filme macht, glaubt er ja, er könne genauso naiv sprechen wie er meint, daß das amerikanische Kino naiv sprechen würde.
FRAGE: Warum habt ihr euch in SPEX dann entschlossen, American Psycho in den Katalog zu nehmen, das Buch also zu unterstützen?
DIEDERICHSEN: Es war so. Die Clara Drechsler, die hier auch sitzt, übersetzt das Buch oder hat es übersetzt. Mittlerweile ist sie damit fertig. Und während sie es übersetzte lagen hier immer so stapelweise die Druckfahnen herum und da hat jeder mal so hineingelesen. Und das fanden wir eigentlich sehr faszinierend. Und zu dem Zeitpunkt haben wir gedacht: Gut, also, bevor dieses Buch hier den zu erwartenden Reaktionen ausgeliefert ist, werden wir es mal vertreiben. Gut in unserem Text, in dem wir das bewerben, haben wir ja verschiedene, mögliche Kritiken schon eingeschlossen, die ich auch noch akzeptieren würde. Aber ich denke heute noch mehr als damals, als diese Entscheidung gefällt wurde, daß es ein ziemlich gutes Buch ist.
FRAGE: Also, "gut" in dem Sinne, wie Bret Easton Ellis in sein Vorwort geschrieben hat, mit Balzac?
DIEDERICHSEN: Das ist mir jetzt nicht präsent. Was steht denn da?
FRAGE: Er sagt dort, daß sich seine Darstellung von Gewalt dadurch rechtfertigt, weil die Leute halt durch die Umstände, dazu gebracht werden. Weil es sozusagen eine Umwelt gibt, die diese Gewalt produziert.
DIEDERICHSEN: Ach so. Das fände ich dann auch zu platt. Nein. So nicht. Ich denke, daß der Genuß beim Lesen ja nicht der Genuß der Gewaltdarstellungen ist. Daran hat ja niemand erstmal Genuß. Zumindest schließe ich das mal aus. Das gibts vielleicht auch, aber das ist nicht der Punkt.
Der Genuß am Lesen ist ja dieses Aufzählen von Produkten. Und von wie Produkten hergestellten Haltungen, Positionen, Gesprächsstoffen, etc. Eine nur durch Aufzählung und keine andere literarische Technik hinzukriegende Katalogisierung von einer auf höchstem Niveau geführten, extrem entfremdeten konsumistischen Existenz. Und das, was an dem Buch sozusagen der Punkt ist, ist daß diese Aufzählungen immer automatisch in eine ähnlich beschriebene Gewaltorgie führen. Das ist eine vollkommen korrekte Wahrnehmung. Genauso ist es. Und das kann man auch nicht anders darstellen. Das kann man nicht erklären. Kann man natürlich auch, aber nicht in so einem Rahmen. Man kann sagen - aber das wäre in der Tat abgeschmackt - das konsumistische Leben ist wie ein menschenfeindliches Zutodefoltern etc.
Das kann man nur so ineinanderübergehen lassen. Im Grunde genommen ohne Anfang und Ende. Ich finde, daß Buch hätte noch viel radikaler geschrieben sein können. Also er hätte sich noch ein bißchen Handlung sparen können. Und Figuren auch noch sparen können. Es hätten noch anonymere Begegnungen sein können. Also in der Richtung wär sogar noch was zu machen gewesen.
Es gibt auch noch andere Sachen, die ich daran auszusetzen hätte, daß in den Gewaltdarstellungen doch so eine Art Schrecken und doch eben auch Steigerungen drinn sind, die nicht mehr so kühl sind. So daß, da doch irgendwie so eine Anklage reinkommt, wo man sich dann vorstellen mußte, es gäbe da so ein Autorsubjekt, das hier irgendwas an die Wand wirft. Und ein Menetekel. Und da sollen wir dann was daraus etwas lernen. Aber im Prinzip denke ich, ist das Buch sehr interessant.
FRAGE: Ich möcht nochmal auf den Zufall zurück, daß in Konkret und SPEX zur selben Zeit Texte stehen, die im Zentrum den gleichen Gegenstand haben: Thriller, Gewalt, Verbrechen. Kann man annehmen, daß das bessere Feuilleton auf der einen Seite, ich sag mal salopp die SPEX-Welt und Politik auf der anderen Seite, für die jetzt mal Konkret stehen soll, daß also Welten, die sich eine Zeit lang nicht viel zu sagen hatten, jetzt über den Gegenstand Verbrechen Krimi, wieder zusammen gehen können.
DIEDERICHSEN: Ich glaube, man kann darüber reden. Aber ich glaube nicht, daß sich das aus dieser Koinzidenz ableiten läßt. Das ist wahrscheinlich eine nicht ganz falsche Beobachtung. Aber neben der Tatsache, daß jetzt bei uns also zwei Krimi-Artikel drin waren, muß man auch sehen, daß in den letzten sechs Jahren überhaupt keine waren. Und wir also nur punktuell gewiße Dinge anreißen, die uns interessieren in diesem Kulturteil. Also nicht in dem Sinne: daß ist es jetzt, was wir verkünden. Also, das waren halt mal drei solche Sachen.
Inwieweit eine verlorene politische Subjektivität sich versucht auch über die Lage des Kriminellen etc. zu rekonstruieren ist eine andere Sache. Da ist natürlich viel dran. Das führt dann in die NWA-Diskussion.
Beziehungsweise gibts da noch einen ähnlichen Zufall: Es gibt ja diese andere Konkret, Konkret-Literatur. Da bekamen die Mitarbeiter den Auftrag: Besprecht vier Bücher - irgendwas. Vier Bücher, die nicht gerade ganz alt sind. Und der Zufall ist, daß sowohl ich, als auch Klaus Bittermann Joan Didien besprochen haben. Das ist das einzige Buch, das doppelt genannt ist in dem ganzen Text. Das einzige, wo zwei Autoren, die jetzt auch die beiden Positionen, die du gerade angesprochen hast, sozusagen bezeichnen, unabhängig voneinander drauf gekommen sind, das zu besprechen . Das ist vielleicht ein Symptom, das sich in diese Beobachtung einreihen ließe.
Ort zu schreiben
FRAGE: In deinem Aufsatz zu Gremlizas 50. Geburtstag hast du geschrieben, daß du einen anderen Ort zu schreiben suchst. Bist du noch auf der Suche und könntest du diese Suche im Spannungsfeld zwischen Konkret, SPEX und Texte zur Kunst beschreiben?
DIEDERICHSEN: Im Grunde genommen suche ich den nicht unbedingt. Also das ist natürlich im Rahmen dieser Gremliza Würdigung zu sehen und da habe ich natürlich an andere Leute gedacht, die diesen Ort suchen. Ich suche ihn im Moment gerade nicht, weil ich an größeren Sachen sitze oder längerfristigen, die sowieso in dem Sinne keine Zeitschriftenkompatibilität haben.
FRAGE: Bücher?
DIEDERICHSEN: Ja, da kann man jetzt schlecht was drüber sagen. Auf jedenfall soviel, daß diese Suche entfällt. Die könnte aber sofort wieder ein Problem werden, wenn ich damit fertig bin. Und insofern konnte ich das auch sagen in dem Text.
Es ging ja auch darum inwieweit sozusagen die Orte, die da erwähnt werden, sich selber so gestalten, daß sie möglich sind für andere. Inwieweit Konkret Leute ausschließt und inwieweit diese Ausschließungspraxis einerseits berechtigt ist und andererseits dann doch nicht.
Das hängt natürlich auch mit meinem Interesse oder meiner Beschäftigung mit den künstlerischen und politischen Avantgardegruppen der letzen vierzig, fünfzig Jahre zusammen und eben genau dieser Problematik wie sie mit ihrer Umwelt umgehen. Mit ihrer unmittelbaren Umwelt. Wie sie Einschlüsse und Ausschlüsse praktizieren. Wieweit sie Opferungen praktizieren, wieweit sie in einem bestimmten Stadium, das aber längst vorbei ist, verständlich und notwending waren und inwieweit sie sich andere Praktiken ausdenken müssen. Von der Situationistischen Internationale bis hin zu Konkret oder so. Darum ging es mir eigentlich.
FRAGE: In dem Text heißt es auch sinngemäß, daß SPEX für dich nicht mehr der Ort zum Schreiben sein könnte, denn wenn er es weiter sein sollte, wäre es exklusiv dein Ort geworden.
DIEDERICHSEN: Ja, das ist halt eben auch das Gremliza-Problem. Irgendwann breitet man sich durch das, was einen interessiert dermaßen aus, daß man eben für andere Leute die Luft verpestet oder so. Und das ist natürlich eine Problematik bei Gremliza, dem es nie gelungen ist, sozusagen einen Nachfolger zu finden. Oder eben das Problem der anderen Leute, die auch immer gleich gegangen sind. Es gibt da ja keine konstante Redaktion seit 74 oder nicht mal für kürzere Zeit. Und wenn, dann ist es eine Redaktion von Volontären, die dann irgendwann wieder gehen.
In letzter Zeit ist das vielleicht etwas anders geworden. Ich habe Konkret seit den frühen 80ern mitbekommen und auch vorher schon gelesen und da gab es das ja nie. Und da gabs auch immer Ausschlüsse mit großem Getöse. Jetzt zuletzt, anfang dieses Jahres ging es ja auch wieder los: Wo man sich für immer trennte von dem und dem und dem. Und immer trennte von der und der, dem früheren Bündnisspartner. Und das ist bei SPEX natürlich nicht ganz so dramatisch. Es ist auch weiterhin ein Ort zum Schreiben für mich. Aber nicht mehr in dem Sinne von: eine redaktionelle Arbeit bestimmen wollen.
Situationisten - historische Analysen
FRAGE: Dein Interesse an den Situationisten, könnte man das ganz simpel so formulieren, daß das eine Theorie ist, die auch gleichzeitig Pop ist, die zum Beispiel in dieser Debord Schrift Society of Spectacle eben den frühen Marx und Entfremdung - solche einfachen Kategorien - mit dem Problem der Langeweile verbindet und den Fehler einer nur semiotischen, oder rhetorisch gemeinten Synthese nicht begeht.
DIEDERICHSEN: Es ist ziemlich kompliziert mit dem Interesse an den Situationisten. Denn es hat ja auch eine Geschichte, die sich ändert. Es ist zwar nach wie vor vorhanden, aber letztendlich ist Situationismus eine Folie vor der man Unterschiede und Gemeinsamkeiten ähnlicher Ansätze herausarbeiten kann.
Was mir sehr gut gefällt ist, daß man zum Beispiel den Aspekt der Collage herausarbeiten kann, die als künstlerische Technik im Situationismus eine Rolle gespielt hat. Eben schon anders als zu Dadazeiten. Eben diese spezifische Collage der Situationisten, die auch sehr popig war. Situationismus hat ja in seinen Zeitschriften sehr - Roberto Ohrt kann viel dazu sagen - sehr päzise zitiert. Und zwar ganz bestimmte Sachen. Diese ganzen Publikationen der Situationistischen Internationale orientieren sich ja in Layout und Design an Publikationen französischer Industrieverbände der vierziger und fünfziger Jahre.
Solche Sachen sind sehr interessant. Wie dabei die Collage grundsätzlich eine andere Rolle gespielt hat - und eben davor im Dadaismus etc. Und welche andere Rolle sie heutzutage musikalisch zum Beispiel im HipHop spielt, was ja immer wieder gesehen wird als Collage, aber im Grunde genommen das Gegenteil einer Collage ist. Nämlich der Versuch der Herstellung einer Kontinuität und sozusagen Geburt einer Nation.
Also solche Sachen kann man eben sehr gut am Situationismus studieren.
Ein anderer Aspekt ist das Umgehen einer Bewegung mit ihrer Umwelt, Ausschlußpraktiken etc. Der dritte Aspekt ist, wieweit kann eine politische Bewegung Künstler aushalten und umgekehrt. Was nach wie vor ein wichtiges Thema ist und was umgekehrt absolut klar und paradigmatisch da vorliegt in Dokumenten. Das sind natürlich alles Sachen die kaum eine andere Nachkriegsbewegung so ausgearbeitet hat.
Wenn man sich sowas wie Fluxus anguckt, da gibts zwar hin und wieder einzelne Statements und Vorgänge, die sehr interessant sind, aber im Ganzen versinkt das dann ja - oder auch der Wiener Aktionismus - in einer Brühe von Desinformation, Mystifizierung und so weiter.
Das soll jetzt nicht gegen die künstlerischen Bewegungen im einzelnen sprechen, sondern dagegen, daß alle diese Bewegungen keinen vernünftigen Historiker, keine Denker hatten, sondern eben Künstlerbewegungen waren. Auf der anderen Seite liefern die politischen Bewegungen, die völlig ohne Künstler ausgekommen sind auch kein Material.
FRAGE: Verstehst du das historische Interesse, das du bei den Situationisten findest als Gegenwaffe zu diesem absolut angekommenen Simulationsgefasel, das zur Zeit die Feuilletons besetzt.
Daß Situationisten als Künstler ihre Kritik an virtueller Repräsentation festmachen, aber dann doch zu einem Subjekt kommen oder Kriterien wie Entfremdung und falsches Leben. Und diese Kriterien auch durchhalten.
DIEDERICHSEN: Ja, wobei ich da doch den Anspruch stellen würde, daß man diese Kriterien - als Kritik an Jean Baudrillard - dann doch noch ein bißchen weitertreiben müßte, als sie allein auf die Situationisten zu beziehen. Weil die nämlich im Grunde genommen die Vorläufer von Baudrillard waren.
Man kann, glaube ich, nicht weit kommen, wenn man einfach die Begriffe wie "falsches Leben" aus der Epoche übernimmt und einfach appliziert. Ich glaube, das ist auch abgeschlossen.
Was ich eben zum Situationismus gesagt habe ist hilfreich im Vergleich. Aber man kann nicht einfach das, was eingedenk von Situationisten gesagt worden ist - auch wenn es seine Schwächen kritisiert - einfach übernehmen, indem man einfach noch einen Schritt zurück geht. Es hilft natürlich. Das ist ein anderer Aspekt. Aber das sind nicht die Situationisten, das ist der Autor Guy Debord.
Guy Debord hat natürlich, vergleichbar nur mit Karl Einstein oder Franz Jung, eine analytische Sprache, die eben poetisch und literarisch den höchsten Ansprüchen genügt. So eine lakonische Knappheit, die trotzdem auch in der Übersetzung noch ein Höchstmaß an Analytik erlaubt. Und das ist natürlich dann noch mal ungeheuer inspirierend und Klasse. Das ist wieder was anderes.
FRAGE: Zwischenfrage. Kann sein, daß es eine Totschlagsfrage ist. Kannst du dich in dieser Geschichte, die du eben beschrieben hast, oder dieses Gewimmel von Geschichten - Künstler ohne politische Köpfe, politische Bewegungen die keine Künstler aushalten - kannst du dich in der Geschichte - mit oder in der du ja seit zehn Jahren arbeitest - selber einordnen, Position beziehen, oder Wechsel nachzeichnen?
DIEDERICHSEN: Schwer, weil Bewegungen waren es ja eher weniger. Waren es ja vielleicht schon, immer gebunden an Institutionen. Vorgefundene oder selbstgeschaffene. Und in allen Gruppen, Arbeiten, taucht natürlich so etwas auf. Also ich kenne das alles auch aus der eigenen Praxis, Ausschlußprobleme usw. Aber die Situation in den 80er Jahren war einfach so: Es gab kein Zur-Rechenschaft-gezogen-werden in dem Maße, wie das innerhalb der reinen Künstlerbewegung, die früher stattgefunden haben, der Fall war. Selbst da war es ja so, daß es Trennung nur aufgrund künstlerischer Differenzen gab.
Und wenn man eine Zeitschrift macht, die sozusagen auch eine ökonomische Position darstellt und sogar, wenn auch in geringem Maße Leute ernährt, nicht so sehr die, die sie inhaltlich machen - aber immerhin gibt es hier eine Geschäftsführerin, die davon lebt und eine weitere Frau, die hier arbeitet - treten ja noch andere Kräfte auf, die dann immer noch stärker sind als es je eine Kritik sein könnte.
Keine inhaltliche Kritik kann sozusagen ökonomische Realitäten überbieten. Das ist jetzt schlecht ausgedrückt. Die Zeitschrift ist noch mehr, als ein rein inhaltlich fixierter Diskussionszirkel. Sie spielt für viel mehr Leute eine Rolle als es je eine dieser typischen modernen Avantgardebewegungen sein könnte.
FRAGE: Ich hab das auch nicht auf die Institution SPEX, oder allgemeiner Zeitschrift bezogen, sondern auf die literarische Praxis, auf deine Arbeit als Kritiker. Nimmst du als Kritiker Anteil an Bewegungen? Ist deine literarische Praxis von ich sage mal der Geschichte dieser Bewegungen abhängig oder ihr übergeordnet. Ziemlich abstrakte Frage jetzt. Aber du produzierst ja als relativ bekannter Autor nicht nur Artikel, sondern selber Geschichte. Bist du dann das Subjekt oder Objekt der Geschichte?
DIEDERICHSEN: Das ist nicht nur eine auf mich anwendbare Frage. Muß ich mal kurz drüber nachdenken. Natürlich bin ich nicht das Subjekt der Geschichte, selbst meiner eigenen nicht alleine. Im Grunde läuft das ja hinaus auf die Freiheitsfrage. Inwieweit bin ich da frei? Und dazu grundsätzlich: Man ist natürlich nie frei und man ist natürlich nie Subjekt. Aber eine Technik der Determiniertheit ist, das man sich dabei als Subjekt denkt. Andernfalls kommen die Determinanten nicht zum Zuge. Daran endet glaube ich dieses Problem. Im nächsten Moment, nachdem das Subjekt gehandelt hat, weiß es, daß es nicht als Subjekt gehandelt hat. Aber in dem Moment, wo es handelt, denkt es, als Subjekt zu handeln.
FRAGE: Na gut. Also ich habe mit zwei Antworten gerechnet, nämlich: "Das interessiert mich nicht" oder " Davon - über dieses Wechselspiel - schreibe/rede ich die ganze Zeit."
DIEDERICHSEN: Ja, aber ich mußte eben noch etwas zusätzliches sagen, nämlich etwas allgemeines zum Freiheitsproblem. "Interessiert mich nicht" sag ich ja nie. "Davon rede ich die ganze Zeit." Nein. Eigentlich nicht.
KONKRET ABSCHIED VON SUBVERSION
FRAGE: Kann man sagen, daß deine Konkret-Kolumnen den Zweck hatten, ein ursprüngliches, linkes Botschaftsverständnis aufzusprengen und Konkret-Lesern gerade so etwas wie die Subversivität von "grooves" oder "beats" nahe zu bringen?
DIEDERICHSEN: Also Subversivität, das muß ich jetzt mal sagen, ist ein Begriff, den ich in dem Zusammenhang nicht mehr verwenden würde, weil seit Hip Hop klar ist: Das ist nicht mehr einfach subversiv.
Subversiv wäre die Richtung zur Auflösung hin. Aber das versucht ja immer auch konstruktiv zu sein. Das ist ja immer stiftend. Es ist ja eine doppelte Bewegung. Zumal ich auch der Meinung bin, daß sich alles zu Tode subvertiert hat. Subversion ist an ihrem Ende angekommen, denn es gibt ja gar nichts fixes mehr was sie auflösen könnte. Und ihre Hoffnung, daß, wenn sich alles fixe aufgelöst hat, es ersetzt würde durch sozusagen eine freie selbstregulierende Richtigkeit, hat sich ja nicht erfüllt. Insofern wäre ich mit dem Begriff auch vorsichtig.
Ansonsten ist es so: Die Konkret-Kolumnen haben wie die anderen Texte in Konkret auch immer die Funktion gehabt einerseits sich in dem Spektrum das das Blatt vertritt zuzuordnen, das heißt nicht den Kontakt dazu zu verlieren, trotz aller Paradoxa in die das geschlittert ist. Und früher vielleicht, um dem noch ein Gegengewicht innerhalb der Bewegung entgegen zu setzen. Da es jetzt aber auch so ist, daß in Konkret ja gar nicht mehr klar ist wo das hingeht und eigentlich nur noch reagiert wird, würde ich fast sagen, daß es schon fast wieder der Versuch ist, da konstruktiv zu wirken.
Wenn ich in Konkret relativ viel über Rassismus rede, dann denke ich, das wäre doch ein Bezugspunkt für die Arbeit von Konkret, der zuwenig genutzt, oder zu sehr als deutsches Problem gesehen wird. Und als Linke mit einem Interesse an Universalisierung und Internationalisierung von Problemen wäre das doch ein Ansatzpunkt. Es ist also gar nicht subversiv im Konkret Kontext gemeint, sondern eher konstruktiv.
Hip-Hop / Weißer Underground
FRAGE: Bei den längeren Texte, Inhaltsverzeichnis einer Theorie und Geschichte der Unversöhnlichkeit behauptest du, daß es einige Gegensätze zwischen Hip Hop und weißem Underground gibt. Weißer Underground definiert sich nicht über manifeste Botschaften, über word, sondern strebt nach Dissidenz über Sound. Und Hip Hop transportiert im Gegensatz dazu Aussagen, Inhalte, politische Subjektivität. Auch deine Chumbawamba-Kritik ging in die Richtung. Würdest du diesen Gegensatz heute noch so aufrecht erhalten? Warum diese Entgegensetzung?
DIEDERICHSEN: Ein entscheidender Punkt, unabhängig von allen anderen gesagten, ist der: Weißer Underground arbeitet ja so: Der einzelne ist nicht mehr zuständig; Künstlerpersönlichkeit existiert nicht mehr; der Mensch als Autor von Menschen ist irgendwie abgetreten. Was kann man jetzt tun? Man könnte jetzt versuchen als Mensch sich in das nicht mehr menschliche zu integrieren und das wäre sozusagen eine Techno-Position. Man könnte sozusagen versuchen aufzugehen in der medialen Realität.
Die zweite Möglichkeit ist, sich sozusagen zu verhalten wie der Arbeitslose, der um seiner Frau nicht zu verraten, daß er arbeitslos ist, mit einer Aktentasche aufbricht, die acht Stunden in einem Park absitzt und dann wieder nach Hause geht. Das ist im Prinzip das Vorgehen des weißen undergrounds. Nur! Was in diesen Geschichten von den Arbeitslosen, die sich in den Park setzen nicht vorkommt, ist natürlich, daß man im Park alles Mögliche erlebt. Und das ist sozusagen das Interessante am weißen Underground, jedenfalls an den gelungeneren Beispielen: Man erlebt irgendwas im Park. Und das ist so was, was in diesen 88/89 viel diskutierten Geschichten, Chuck Dukowski, etc, zu finden wäre.
Und die dritte Möglichkeit ist: man hat das Problem überhaupt nicht. Und das ist Hip Hop. Man hat dieses Problem nicht, weil der Mensch noch gar nicht abgetreten ist, weil er noch gar nicht zum Zuge gekommen ist. Und da bietet sich was ganz anderes.
Man arbeitet dann nämlich auch mit der ganzen Medienrealität, aber man sieht sich von einem ganz anderen Standpunkt. Man hat die Geschichte noch nicht hinter sich. Und diese ganze Möglichkeit, eine Geschichte zu simulieren, die in Europa kulturpessimistisch betrachtet wird als ihr Ende, wird gesehen und auch in der Praxis behandelt als ihr Anfang.
In dem Moment, wo man nämlich aus diversen schwarzen Schallplatten die es gibt ein Hip Hop Archiv konstruiert, das abrufbar ist, behauptet man ja erst, daß es eine Black Nation gibt. Darüber konstruiert man erst Geschichte. Und das ist erst mal zwar eine genau simulierte Geschichte, aber sie spielt für die Beteiligten eine andere Rolle als in Mitteleuropa, wo es das Ende von Frankreich oder das Ende des Abendlandes ist. Dort ist es der Anfang.
Und das ist der grundsätzlich nicht überbrückbare Unterschied zwischen dem Arbeitslosen im Park und der Eroberung der Maschine.
FRAGE: Was würdest du denn dem Olaf Dante Marx als Hip Hop Hasser antworten, der auf den Unterschied zwischen Kulturpolitik und Politik anspielt, wenn er sagt: Public Enemy beuten Politik nur aus.
DIEDERICHSEN: Da ist natürlich auch was Wahres dran. Aber da ist dieses Verb ausbeuten falsch, weil es nahe legt, da gäbe es eine parasitäre Beziehung. Natürlich ist das Verhältnis von Public Enemy zu Politik nicht so, wie es konventionell europäisch links gedacht wird. Also in einem Zusammenhang arbeiten, und dann die entsprechenden Bilder suchen etc.
Die Art wie Public Enemy sich mit allem möglichen Bildern schmücken und Gesten zitieren legt diesen Gedanken "Ausbeutung" nahe. Nur ist natürlich das keine Ausbeutung, weil es sich um eine vollkommen andere Art von Politik handelt. Eine Politik in der eben diese geklauten Bilder eine Realität haben und nicht nur ein witziges Zitat sind. Sie sind zwar ein witziges Zitat, aber sie haben anders als in einer Welt, wo witzige Zitate nur noch ornamentale Funktion haben, eben keine ornamentale Funktion, sondern eine existentielle. Das kann man von hier aus schwer verstehen. Aber es ist so.
Und das ist auch ein altes Problem zwischen diesem Dressup und Dressdown Problem zwischen weißem und schwarzem Underground, das es eigentlich seit Jahrzehnten gibt. Die Hippies bei Fly and the Family Stone haben in den späten Sechzigern immer gesagt: Wie sind die Scheiße angezogen mit den komischen Bügelfalten! Was soll der Scheiß? Das ist im Grunde dasselbe was Olaf da wahrnimmt, aber falsch versteht.
FRAGE: Wenn man sich neue Platten wie Poor Righteous Teachers oder PM Dawn anhört, bei denen eigentlich diese Hip Hop Definitionen nicht mehr zutreffen, weil die sowohl musikalisch wie inhaltlich ihre Verbindungen mit Islam, black nation, etc in gängige Pop-Technik auflösen, scheint dieser Standpunkt zu HipHop nicht mehr zu stimmen.
DIEDERICHSEN: Auf was beziehst du dich jetzt? Welche Einschätzung soll ich revidieren, die ich wo gegeben habe?
FRAGE: Ich meine in der neuesten Spex die Berichte über Leaders of the New School und Poor Righteous Teachers, sowohl was inhaltlich gesagt wird, daß die z. B. von diesem Islam Ding weg gehen. Dann kommt diese five percenter Sache auch noch mit rein. Und jetzt - mal ganz dumpf gesagt - wird ja angefangen bei PM Dawn statt von Hip Hop von "Gesangsstil" zu reden.
DIEDERICHSEN: Nein, ich würd nicht sagen, daß sich da prinzipiell sich was verändert hat. PM Dawn würd ich da mal rauslassen, die sagen ja selbst rund um die Uhr, daß sie kein HipHop sind. Außerdem glaube ich nicht unbedingt, ich habe zumindest nicht gemeint - wenn es in der Besprechung, die du meinst so geklungen hat, ist es was anderes - daß da jemand vom Islam weggeht.
Ein Aspekt im Mittel-Klasse Hip Hop ist natürlich der, daß das, was an sich in der schwarzen separatistischen Politik nicht drin ist, nämlich der Generationenkonflikt dort natürlich eine Rolle spielt. Und dafür stehen meines Erachtens die Five Percenter. Nicht in ihrer ganzen Geschichte, aber so, wie das heute wahrgenommen wird.
Ich kann das auch nicht richtig gut beurteilen, weil ich auch jetzt sechs Monate nicht in New York war. Aber ich glaube Five Percenter sind eher schon eine Jugendorganisation. Und Nation of Islam ist ja richtig große Politik. Und zu dem schon konservativ in ihrem Habitus, sodaß da also so ein Aspekt reinkommt. Der kommt auch rein - eigentlich auf ganz andere Weise ziemlich interessant - wenn Chuck D. plötzlich sagt: "Wenn ich sage, ich unterstütze Louis Farrakhan, dann haben die weißen Rockkids, die in die Public Enemy Konzerte kommen, keine Probleme damit. Aber ihre Eltern." Also auch Chuck D. sieht plötzlich so was, wie Jugend, Generationenkonflikt, Jugendkultur. So was als Bündniss im schwarzen Kampf. Was noch vor drei, vier Jahren nie geäußert worden wäre. Also da ist vielleicht ein kleiner Umbruch. Aber das interessante ist, daß Chuck D. sich dabei wieder auf die richtige Nation of Islam bezieht, also Farrakhan. Außerdem gibt es noch ein ziemlich nahes beieinanderstehen von Five Percentern und Nation of Islam.
Es ist ja nicht so getrennt. Zumal ja eben auch die ganze schwarze Diskussion ja auch versucht nach außen hin Konflikte , unterschiedliche Einschätzungen möglichst nicht zu thematisieren. Die wollen ja, und das ist ja auch taktisch sehr leicht zu verstehen, nicht gespalten werden von außen. Wollen nicht, daß mit der einen schwarzen Fraktion sich die einen Weißen verbinden, mit der anderen schwarzen Fraktion die anderen. Wie es in den 60er Jahren war.
FRAGE: Gut. Obwohl ich Dante Marx teilweise verstehen kann, wenn ich an den ersten Public Enemy Artikel in Spex zurückdenke. Ich glaube, Niemczyk hat das gemacht und von einer paramilitärischen Undergroundorganisation gesprochen wurde, das aber nie weiter verfolgt worden ist. Die wollten also ja auch politisch wirksam sein. Und du hast auch in der NWA Kritik für Konkret geschrieben, daß es vollkommen verschiedene Lesarten von Hip-Hop gibt. Mir hat in SPEX gefehlt, daß man versucht den realen politischen Hintergrund genauer darzustellen. Das heißt zu Beispiel auch, was eine schwarze Feministin real von den Texten denkt, wie sie dagegen hier goutiert werden etc.
DIEDERICHSEN: Das ist auch unheimlich schwer hinzukriegen. Denn wenn du eine schwarze Feministin danach fragst, wenn DU sie danach fragst, dann sagt sie nicht dasselbe, wenn eine andere schwarze Feministin sie danach fragt. Das kann man nicht so verallgemeinern. Aber aus besagten taktischen Gründen. Und auch berechtigten taktischen Gründen.
Da gibt es ja auch eine interessante Diskussion, beispielsweise die Bücher von Michelle Wallis, die ich nicht müde werde zu empfehlen. Die hat ja schon in den frühen 80ern versucht, den schwarzen Machismo von Innen zu kritisieren, indem sie gesagt hat, der ist ein Effekt des weißen Rassismus, der aber nicht alleine dem weißen Rassismus anzulasten ist. Der müßte auch innerhalb der Community anders diskutiert werden. Hat dann auch ziemlichen Ärger bekommen, hat aber dann auch immer weiter an diesem Thema gearbeitet. Hat zuletzt "Do the right thing" symphatisierend, aber unter diesem Aspekt kritisiert. Das gibt es alles. Nur. Würde ich jetzt hingehen - gut bei Michell Wallis würde es vielleicht klappen, aber in der Regel eben nicht - würde man wahrscheinlich diese verschiedenen Lesarten nicht rausfiltern können.
Und worauf ich mich in dem NWA-Artikel bezogen habe war ja ein Flugblatt einer kommunistischen Partei, Revolutionary Communist Party, wo aber viele Schwarze traditionell drin sind. Eigentlich eine maoistische Bewegung, in der in den 70er Jahren schon viele Schwarze drin waren. Die haben also ein Flugblatt gemacht: You`re not fighting the power when you`re dissin` a sister. Und das bezog sich auch auf NWA, zunächst mal NWA verteidigend, sie also gegen FBI usw. in Schutz nehmend. Aber eben: "...verheerende Wirkungen innerhalb der Community..." und so fort.
Und da hab ich nur gemeint - indem ich NWA für hier verteidigt habe - daß das natürlich erstmal Vorrang hätte. Wobei das mit hier erstmal nichts zu tun hätte.
FRAGE: Die Bedeutung dieser im Bezugsrahmen Hip Hop geführten Auseinandersetzungen bleiben bestehen, die Sätze bleiben Argumente, auch nachdem die bewaffnete Macht aller kommunistischen Parteien, die Sowjetunion verschwunden ist? Gibt das Verschwinden einer realen politischen Gegenmacht nicht Anlaß die Aussagen von schwarzen Kommunisten in Amerika jetzt anders zu interpretieren?
DIEDERICHSEN: Die gibt es ja fast nicht. Diese Revolutionary Communist Party nennt sich zwar Communist Party, nennt sich maoistisch, aber ihre Arbeit besteht hauptsächlich darin, einen Buchladen zu machen: Revolution Books. Und in dem Buchladen gibt es hauptsächlich Texte von Farrakhan bis Frederic Jameson. Was alles keine Kommunisten sind, aber Leute die irgendwie im Kampf stehen. Und wenn du an die Kasse kommst dann kriegst du irgendwie noch ein Pamphlet von ihrem komischen Leader da, von Awakin´, in die Hand gedrückt. Aber das ist auch alles was die noch machen. Die Partei hat halt eine komische Tradition, eng mit schwarzem Widerstand, was so übriggeblieben ist in den 70ern, mit Black Panther zusammengearbeitet zu haben. Das ist halt jetzt noch da und deswegen verkaufen sie Farrakhan, obwohl Farrakhan und Communism wirklich nicht zusammengehen.
FRAGE: Darauf wollt ich hinaus: Ist der politische Horizont, den du mit Blick auf Hip Hop beschrieben hast, nicht nur ein tröstlicher Gedanke eines westeuropäischen Linksintellektuellen, der mit Hip Hop ein Reservoir findet, um seinen real geschwächten Begriffen erneut Aussagekraft zu injizieren.
DIEDERICHSEN: Diese Gefahr ist natürlich immer gegeben. Ich meine, westeuropäische Linke, das ist ne alte Sache. Ich meine schon in den 70er Jahren, Nicaragua Kommittees waren natürlich eine Entschuldigung hier etwas nicht analysieren zu müssen. Obwohl Nicaragua Kommittes hier eine richtige Arbeit gemacht haben waren sie auch eine psychische Entlastungsfunktion von komplexeren Widersprüchen .
Aber was die politische Dimension von Hip Hop betrifft: Die hat es natürlich als universale nicht, aber als partikularer Kampf unbedingt. Da kann man natürlich jede Menge Beispiele aufzählen, wo HipHop ganz konkret eingegriffen hat. Oder seine Protagonisten eingegriffen haben, in diese ganzen partikularen Geschichten innerhalb der amerikanischen Metropolen. Also von dem Tiruana Brawley Fall, dem Bensonhurst Fall, die Dinkins Wahl. Also das, bis hin zu der ganzen Two Live Crew Geschichte.
Und davon kann man auch was ganz anderes ableiten, wenn man sich Amerika insgesamt ansieht: Man hat da natürlich eine Kultur von partikularen Bewegungen - eben keineswegs nur die Schwarzen - sondern auch die schwarzen Homosexuellen, die schwarzen homosexuellen Frauen. Und noch wieder ganz andere Definitionen. Und man ahnt so etwas, wie, daß politische Subjektivität sich aus solchen Überdeterminiertheiten ergibt. Natürlich nicht objektiv, sondern wenn man so will subjektiv. Aber das ist natürlich ein Vorgang der dann doch übertragbar ist. Der ist in seiner Abstraktheit wieder universalisierbar . Und insoweit kann man sich da noch ankoppeln.
Theorie / Medien / Politik / Amerika
FRAGE: Stichwort Laclau/neue politische Theorien. Kannst du sagen, welche Erfolge, die von diesem Theoretiker beschriebene Mikropolitik gebracht hat?
DIEDERICHSEN: Oh das ist schwer, wenn sie das überhaupt hat. Natürlich hat sie das. Wobei, Laclau ist ein Problem für sich. Der Name, den die sich geben Laclau und Move ist ja "direkte Demokratie". In ihrer Marxismuskritik sind die schon ziemlich gut, aber was am Ende dabei raus kommt läuft Gefahr einfach nur als linker Flügel der F.D.P. durchzugehen.
Der andere Teil der Frage. Welche Erfolge hat Mikropolitik gehabt? Muß ich passen. Mikropolitik hat immer den Erfolg, daß es dieses und jenes gibt, daß etliche Lebensformen existieren. Nur, das sind Partikularerfolge und was anderes erwartet man auch nicht davon.
Es ist ja auch nicht der Weisheit letzter Schluß. Es ist ja nicht so, daß anstelle des großen Fehlers, richtige Politik machen zu wollen, die weisere Einsicht tritt, sich auf kleinere Dinge zu beschränken. Sondern aus dem fundamentalen Scheitern mit richtiger Politik tritt das Kräftesammeln und sich an bestimmten Orten betätigen.
FRAGE: Das erinnert mich an die These in einem Aufsatz in dem Band "Die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen", die besagt, daß die Krise des Marxismus auch damit zusammenhängt, daß der fordistische Kapitalismus nicht mehr existiert.
DIEDERICHSEN: Wo hast du das gelesen?
FRAGE: Das Buch heißt "Die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen". Da ist auch dein Beitrag "Islam und Black Muslim in der schwarzen Musik" abgedruckt.
DIEDERICHSEN: Das habe ich noch nie gesehen dieses Buch. Sehr interessant, daß es das inzwischen gibt. Ich habs nämlich nicht. Ah ja. Das ist diese Kofler Festschrift.
FRAGE: Jedenfalls geht es da in einem Beitrag darum, daß dieser fordistische Kapitalismus nicht mehr existiert, sondern...-
DIEDERICHSEN Genau das steht auch in 17° Celsius drinn. Vielleicht ist das ja auch derselbe Text. Ich habe nämlich gerade so einen Text desselben Inhalts in dieser Hamburger Zeitschrift 17°Celsius gelesen... -
FRAGE: -...diese alte Frontstellung Arbeiterklasse Kapital mit ihren zentralen Widersprüchen aufgelöst ist und der Marxismus deshalb in die Krise gekommen ist, weil er in seiner klassischen Form eben darauf aufbaut. In dem Zusammenhang, also diese Ansätze weiter zu denken, habe ich auch den Laclau gesehen.
DIEDERICHSEN: Ja jede neue Möglichkeit, jedes weiter denken, das noch im entferntesten was mit Marxismus zu tun hat, muß sich ja fragen, wer tritt an die Stelle der Arbeiterklasse? Das ist ja die alte Frage. Da gibts die 70er bis mittlere 80er Antwort: Die dritte Welt. Die funktioniert ja aber auch deswegen nicht, weil der Reichtum der ersten Welt ja wirklich nicht auf der Ausbeutung der dritten Welt beruht, sondern nur zu einem geringen Teil. Und das Elend der dritten Welt nicht auf der Ausbeutung, sondern der Nichtmalmehrausbeutung.
Und von da aus müßte man zum Beispiel das, was ich vorhin schon gesagt habe - die Überdeterminiertheit als politische Subjektivität in Amerika - das müßte man übertragen auf Weltverhältnisse: Die Determiniertheit, gleichzeitig in verschiedenen Stadien von Ausbeutung und Diskrimierung sich zu befinden. Und daraus (so) etwas, (wie ein politisches Subjekt) ableiten.
Das können dann aber nicht mehr global Die Dritte Welt, oder die wie Die Dritte Welt behandelten Teile der Ersten Welt sein, sondern das müßte dann konkret sein.
Auf der anderen Seite reicht es natürlich nicht, das mikropolitisch zu bestimmen. Weil dann bleibt eben eigentlich immer nur so eine Verteidigung von irgendwelchen Freiräumen. Und das ist sowieso ein Erste Welt -Problem.
FRAGE: In dem Zusammenhang sind ja auch einige "Texte zur Kunst"-Beiträge interessant. Beispielsweise Artikel von Manfred Hermes, der über Act Up geschrieben hat.
DIEDERICHSEN: Unbedingt. Hermes ist da sehr drann an dem Problem. Er hat ja auch im neuen Konkret ( Okt. 91) einen Text zu diesem Thema, der im Grunde noch weiter geht als der in "Texte zur Kunst". Es geht über dasselbe Thema. Auch anläßlich dieses Jenny Livingston Films, diesem "Paris is burning" hat er das Thema weiter bearbeitet.
FRAGE: Es fällt auf daß du an theoretischen Texten eher Amerikaner empfiehlst. Z. B. über Rassismus, oder eben den Laclau, um mal einen zu nennen. Kommt das daher, daß die in Deutschland geführten Diskussionen, oder die in Frankreich gängigen Theorien momentan für dich nichts sind, daß da eine Art Vakuum ist, das einen dazu bringt sich in Richtung USA zu wenden und sich dort die Leute anzuschauen?
DIEDERICHSEN: Na ja. Die Amerikaner haben halt eine beeindruckende Praxis. Das ist der einzige Grund. Wenn ich nicht mehr Kontakt zu Amerika hätte, wenn ich also nur hier säße und lesen würde weiß ich nicht, ob ich das genau so machen würde.
Aber in Amerika hängt das halt immer alles direkt mit Aktivitäten zusammen. Und das erstaunliche, was ich ja auch einmal in Konkret geschrieben habe, ist ja, daß die Namen Lacan und Derrida, also Haupteinflüsse der 80er Jahre, die in Deutschland und so wie ich das beurteilen kann auch in Frankreich die Depolitisierung eingeleitet haben, in Amerika das Gegenteil mit sich brachten.
Das heißt: Theoretische Texte sind sowieso in erster Linie nur danach zu beurteilen wie man sie verwendet. Deshalb ist es, übertrieben gesagt, ohnehin egal was man liest. Man hat ja bestimmte Probleme und keiner ist so blöd, die Probleme nicht irgendwie verstehen zu können. Wie er sie dann begrifflich ausgestaltet ist fast egal, solange es noch übertragbar ist.
Was in Amerika also beeindruckend ist, ist die Fülle von Aktivitäten. Was eben damit zu tun hat, daß in Amerika jemand der nicht sozusagen um seinen ride kämpft auch wirklich untergeht und daher viel, viel mehr Bewußtheit darüber besteht, wie bedroht irgendeiner ist.
Das ist hier ja etwas anders. Das wird sich vielleicht bald ändern.
Deutsche Ideologie / Kittler / Weibel
FRAGE: Zur Depolitisierung läßt sich ja noch anmerken, daß die sogenannten neuen Theoretiker, die jetzt hochkommen in Deutschland, Strategien verfolgen, sich mittels Theorie als Avantgardist installieren zu wollen, indem man wie der Weibel die Kunstgeschichte als Kunstkunstkommentar im Sinne einer Geistesgeschichte laufen läßt und wie Kittler auf der anderen Laufbahn der Medien - und Techniktheorie sich gegen einen Humanismus und ein Subjekt von 1800 wendet.
DIEDERICHSEN: Also Kittler finde ich sehr anregend und auch gut. Weibel weiß ich nicht, kenne ich auch nicht so gut. Ich denke, daß man mit Kittler noch sehr viel mehr anfangen kann.
FRAGE: Aber das ist doch ein rein universitäres Problem, was der hat.
DIEDERICHSEN: Ja? Ich weiß nicht. Ich denke, es ist nicht allein ein universitäres Problem, denn seine Theorie des Archivs und der Medien, die ja von Foucault kommt, ist ja auch so eine melancholische Verabschiedung vom Menschen. Und anstelle dessen gibt es die von alleine laufenden Medien, die sich immer nur erneuern wollen und die die Geschichte weiter treiben. Und das ist eine richtige Beobachtung. Die Frage ist nur, was man jetzt macht damit, als Mensch oder als - . Und das ist das, worüber ich vorhin gesprochen habe.
Was man damit machen kann ist nämlich entweder mit der Aktentasche in den Park zu gehen oder zu versuchen , wie es Kittler im Schluß seines "Grammophon, Film und Typewriter" nicht vorschlägt, sondern feststellt, das Glück in der Disco, die Schaltkreise der CD zu hören. Das ist ja in der Tat die Alternative für Mitteleuropa.
FRAGE: Einzuwenden wäre dann aber, daß dieser ganze Ansatz, z. B. die Konstruktion des Subjekts aus den Praktiken der Alphabetisierung nachzuzeichnen, die Praxis von Medientechnik dagegen arbeiten lassen zu wollen und schließlich Lacan quasi als aufklärerische Kraft den Medien zuzuordnen - grob gesagt - die Weltprogrammierung von 1800 wiederholt und imgrunde gegen das alte Subjekt spricht, das es bekanntlich ohnehin nicht mehr gibt.
FRAGE: Stimmt. Aber du kannst Kittlers Medientheorie ja auch gut marxistisch lesen und seine Aussagen als notwendige Konkretisierung der Wahrnehmung verstehen, die Foucault - der ja Auftritt und Verschwinden des Menschen in der Geschichte beschrieben hat - lediglich in abstrakten Bezugssystemen auf den Begriff bringen konnte. Als konkret denkender Historiker. Und damit ist der Anschluß an die Realitäten der Gegenwart möglich.
DIEDERICHSEN: Genau, finde ich auch. Kittler ist Materialist. Nur findet der Materialist heute nicht mehr Materie vor, sondern Medien.
Kittlers Frage ist, soweit ich ihn verstehe, nach diesem Lacanschen Dreierschema Imaginär Symbolisch Real nämlich die: Was ist das Reale, nämlich die hardware des Bewußtseins. Was ist die hardware des Bewußtseins? Und die hardware des Bewußtsein rekonstruiert er historisch. Eben aus Schreibmaschinen, Alphabete und Rechenmaschinen. Und das sind heute eben digitale Medien, die Digitalisierung.
Und die Digitalisierung ist ja bei Lacan unabhängig von den Medien schon mal ein Problem. Also nicht als nur technologischer Effekt, sondern insofern das Reale über diese Janeinneinja-Ausrechenbarkeit codiert ist. Das steht ja im Schluß des Aufsatzes über diesen entwendeten Brief.
In der Tat, diese Lacansche Bestimmung des Realen findet bei Kittler die wesentlich konkretere Bezeichnung Medienmaterialität. Und da denke ich schon, daß das auch ein, wenn auch sehr melancholischer, so doch linker Ansatz ist.
Foucault / Baudrillard / Virillio / Theweleit
FRAGE: Täuscht der Eindruck, daß Foucault einen größeren Stellenwert als früher hat? Zumindest taucht der Name in den neueren Texten relativ häufig auf.
DIEDERICHSEN: Texten von wem?
FRAGE: Von dir
DIEDERICHSEN: Von mir? Wirklich?
FRAGE: Ich hatte jedenfalls den Eindruck. Die Frage war ja, ob dieser Eindruck täuscht.
DIEDERICHSEN: Kann ich weder ja noch nein sagen. Foucault ist immer schon Klasse gewesen. Nur ich habe den nie so wahnsinnig viel gelesen und es war auch nie so etwas - und das ist auch mit das Gute an Foucault - was man direkt verwenden konnte.
Also ich konnte Foucault noch nie verwenden. Ich konnte noch nie einen Gedanken von Foucault übernehmen, weil er dafür doch zu erratisch war. Deswegen aber immer wieder reinkucken. Während Sachen, die man direkt verwenden kann, irgendwann auch erledigt sind. Das ist vielleicht ein Grund.
Aber meinst du jetzt Foucault im Gegensatz zu einem anderen Namen, der verworfen wurde, oder was?
FRAGE: Was heißt verworfen? Ich weiß nicht was alles in deinem Kopf vorgegangen ist in den letzten 10 Jahren. Aber gut, sagen wir "Foucault" im Gegensatz zu beispielsweise - Baudrillard.
DIEDERICHSEN: Ja das ist in der Tat erledigt. Genau. Das ist so: Die Schriften, die irgendwie wichtig waren, mit denen man gearbeitet hat, waren ja die spätsiebziger Jahre Sachen, cool killer und so was. Und was heute so kommt, da kann ich nichts mit anfangen. Erscheint mir auch wahnsinnig beliebig, eine wahnsinnige Spinnerei eben. Gelegentlich natürlich irgendwas schön gesagtes, das man auch wiedererkennen kann. Aber in der Regel doch Scheinprobleme, Raserei, irgendwo hingeführt werden, erfundene Begriffe.
FRAGE: Die du auch in deinen Sachen, deiner Arbeit wiederfindest, wenn du dir heute deine alten Texte anschaust?
DIEDERICHSEN: Klar, klar. Bloß, der Unterschied ist ja wirklich der, daß der doch immer in irgendwelchen Zusammenhängen eingebunden war, was Baudrillard offensichtlich nicht ist. Und das Buch, wo ich dann wirklich gedacht habe, jetzt reichts, war dieses Tagebuch cool memories. Das ist nun wirklich die Härte. Da kommt dann eben: "Der Professor und die Frauen". Und das ist irgendwann nicht mehr zu ertragen.
FRAGE: Virillio schreibt ja glaube ich gerade für die Vogue einen Artikel über "Warum nicht mehr gereist wird in 20 Jahren?"
DIEDERICHSEN: Weil er nämlich nicht mehr reist. Er reist ja nicht mehr.
FRAGE: Haha. Und dann schreibt er deswegen die Vogue voll.
DIEDERICHSEN: Er hat ja das Experiment, daß er bis zum Jahre 2000 seine Wohnung nicht mehr verlassen will.
FRAGE: Ach ja.
DIEDERICHSEN: Der ist dafür perfekt ausgerüstet mit allem was es gibt und will sozusagen vorführen, daß das geht.
FRAGE: Hahaha
DIEDERICHSEN: Nimmt dann auch an Symposien und so weiter Teil via Fernsehschaltung und ist also präsent, macht alles mögliche, aber verläßt seine Wohnung nicht mehr bis zum Jahr 2000, um das eben irgendwie...
(Allgemeines Gelächter)
FRAGE: Okay, das ist jetzt ein bißchen namedropping, aber mich würde interessieren, was du von dem letzten Buch von Theweleit, diesem Paare-Buch hältst.
DIEDERICHSEN: Meinst du das Buch der Könige oder Objektwahl?
FRAGE: Objektwahl. Als Theweleit in München daraus gelesen hat wurde er von den Leuten dauernd gefragt, ob denn die Liebe noch geht. Der mußte da den Lebensratgeber machen.
FRAGE: Nein hör auf. Das war eine zu traurige Geschichte. Das war ja fürchterlich.
DIEDERICHSEN: Außerdem ist natürlich genau das der Grund, warum die Sachen von dem so erfolgreich sind. Weil man sie eben so auch lesen kann.
Aber wie gesagt, von dem Buch der Könige habe ich eine Menge gehalten, weil es versucht Ausbeutung auf Bereichen festlegbar zu machen, wo bis jetzt kein Mensch von Ausbeutung gesprochen hat, sondern immer nur von persönlichen Beziehungen. Und das ist im Prinzip eine richtige Frage. Wiederum auch, wenn man sich dafür interessiert: wo kommen politische Subjekte her, wo kommt vielleicht eine Kulturarbeiterklasse her, oder so was. Was natürlich nicht mehr so eine monolithische Arbeiterklasse sein kann. Insofern denke ich mal, der ganze Forschungsansatz ist sehr gut.
Nur, daß das auch immer sehr persönliche, direkte beschreiben von seinem Privatleben und Privatleben die er kennt und das Wiedererkennen darin - was seine Generationsgenossen dann damit verbinden, also was die darin wieder erkennen - natürlich zu den ganzen Erfolgen führt, die er bei Leuten wie Antje Vollmer und Rudolf Augstein oder so hat, ist klar. Das ist natürlich eine Richtung, seine Sachen zu lesen, die ich nicht so interessant finde.
Greil Marcus
FRAGE: Greil Marcus sagt in seiner Secret History über sich als Historiker, daß er sozusagen die "besseren Mythen" schreiben will. Ist das für dich ein Vorhaben, wo du sagen könntest: Ja, da mach ich mit? Ist das eine Schreibposition, die du womöglich auch in SPEX gerne unterstützt haben würdest, mit dem Girlism-Beitrag zum Beispiel?
DIEDERICHSEN: Das ist eine superinteressante und auch problematische Position. Also Greil Marcus vermeidet einen grundsätzlichen Fehler, den alle Historiker von Bewegungen vorher immer gemacht haben: Er schreibt die Geschichte nicht vom Anfang bis zum Ende einer Bewegung, die ja immer im Scheitern endet. Woraus dann folgert, wieso sowas zum Scheitern verurteilt ist. Eben das kommt ja auch meistens bei solchen Historien raus und ermöglicht auch dem Autor sein eigenes Scheitern, bedingt in einer solchen Situation zu verklären. Und das macht Greil Marcus eben nicht.
Also er stellt in den Mittelpunkt, daß in allen möglichen Epochen bestimmte Dinge wieder auftauchen und daß das Wiederauftauchen, also der Triumph, die eigentliche, der eigentliche Fokus sein sollte.
Das Problem ist natürlich, daß dabei irgendwann natürlich Geschichtlichkeit vor die Hunde geht. Wenn du permanent ein Wiederauftauchen irgendwelcher Positionen, auch politischer behauptest, behauptest du gerade, daß diese Positionen nicht politisch sondern anthropologische Konstanten sind: Der Mensch muß halt gelegentlich mal auf die Kacke hauen. Also, das käme dann dabei raus, wenn man nicht durch irgendeine Hintertür die geschichtlilche Position wieder einführen würde.
Und dazu würde ich gerne mal in einem anderen Rahmen ein paar Vorschläge machen wie man mal das tun könnte.
Ein bißchen hab ich das versucht in dem Aufsatz Texte zur Kunst Band 2. Das war ein Aufsatz, ein Vortrag, der ursprünglich in Graz gehalten wurde, wo auch Greil Marcus anwesend war. Und wo ich gesagt habe, es lassen sich eben Konstanten, die man für anthropologische halten könnte als historische beschreiben. Wie zum Beispiel Arbeit oder Geld etc. Natürlich kann man sagen, Geld gibt es seit 630 vor Christi. Und das ist schon fast kein historischer Zeitraum mehr, sondern ein epochaler, oder ich weiß nicht was, wenn darauf mehr Gewicht gelegt werden könnte, daß und wie sich daraus auch die geschichtliche Dimension verändert. Also auch die Wiedergeburt von Johann von der Leyeden in Jonny Leyden.
Natürlich muß Markus in der jetztigen Situation erstmal auf die Gemeinsamkeiten hinweisen. Aber er müßte dann in einem zweiten Schritt sozusagen die geschichtliche Differenz einführen. Das könnte er ja auch. Das ist nicht ausgeschlossen bei diesem Ansatz. Und deswegen halte ich ihn auch für sehr fruchtbar. Nur er ist eben noch vervollkommnungsbedürftig.
TECHNO
FRAGE: Ausgehend von einer Grundforderung an Musik, daß sie auch immer mit einem gesellschaftlichen Draußensein verbunden sein muß, und sei es nur als symbolträchtiger Verweis auf die aktuellen Bedingungen ihrer Produktion, scheint Techno wirklich ein Problem darzustellen. Geschichtlichkeit ist ja in dem Sinne nicht mehr vorhanden.
DIEDERICHSEN: Ja, aber Techno hat seine Vor - und Nachteile. Wir haben gestern hier noch ziemlich lang darüber diskutiert. Der Punkt der daran natürlich beeindruckend ist und natürlich fasziniert ist: Daß da, wie übrigens vorher schon Acid House und vergleichbare Sachen, daß also die Verdinglichung von Musik abgeschafft ist, daß es keine Personen, Waren, Stars gibt. Die Schallplatten sind ja nicht dafür da, daß man sie zuhause auflegt. Das ist ja alles Produktion für Djs - das ist eine Bewegung, die sich nur über Events definiert.
Andere sagen: Sie können nicht mehr ertragen, was da für Leute sind. Sie können nicht mehr ertragen die Agressivität da, die reine wochenendventilartige Funktion, die das Ganze hat, daß das eben nicht mehr eine Sache ist, die das Alltagsleben umgestaltet von Leuten, ihre Lebensform, sondern die nur noch dafür da ist brutalomäßig um sich zu treten.
Wobei es natürlich wieder die vielen Feinunterschiede gibt: Technoparties, die damit nichts zu tun haben, mit diesen Beobachtungen. Aber es tendiert wohl ein bißchen dahin.
Problem viszerale Unterschiede zu bestimmen
FRAGE: In einer Inspiral Carpents Kritik stellst du als ein Kriterium bei der Beurteilung des weißen underground die Unverständlichkeit dieser musikalischen Form vor und schreibst über die Unverwertbarkeit dieser band für die Sinnmaschinerie.
Rave parties sind ja in England in den letzten zwei, drei Jahren extrem verfolgt worden. Die Leute sind da ja tatsächlich eingeknastet worden. Wo wäre - wenn man Techno und Rave jetzt nur mal auf der Ebene von Jugendkultur vergleicht - der Unterschied. Unverständlichkeit gegenüber der Sinnmaschinerie trifft als Begriff für die Ästhetik von Rave ja auch auf Techno zu.
DIEDERICHSEN: Ich glaube, da kommen wir genau zu dem Punkt. Das ist im Prinzip - wenn wir jetzt mit Rave nicht das meinen, was an Schallplatten dazu erschienen ist, sondern das was sozusagen davor gelaufen ist - das ist im Prinizp unter dem Aspekt, den ich vorher gesagt habe, nämlich Abschaffung von Verdinglichung, das gleiche. Nur: Es hat einen anderen Gegenstand und eine andere Umgangsform. Der tribe tat was anderes als der andere tribe. Und da wäre eben nun eine Bestimmung zu suchen für so eine Unterscheidung.
Die Unverständlichkeit und die Unzugänglichkeit für die Sinnmaschine ist die gleiche. Was aber tatsächlich passiert, ist jeweils was anderes. Und dafür Begriffe zu finden ist nicht leicht. Da gibts im Moment den gleichen backlash, wie es ihn immer schon gegeben hat, wenn man irgend etwas positiv bestimmt hat.
Wenn sozusagen von Aktivisten eine Nische, oder eine Lebensform oder Produktionsweise ausgekuckt, geschaffen und gesichert worden ist, wie zum Beispiel Platten auflegen, die sich immer wieder verändern, die es nicht zu kaufen gibt und wo es keine Stars gibt, dann wird das ganze gleich wieder von denjenigen oder den Verhältnissen besetzt, die durch nur diese Veränderung nicht abgeschafft worden sind. Das ist ganz klar.
Solche Sachen sind ja immer umgeben von - nach Debord - falscher Realität. Und die greift natürlich danach. Ich will nicht damit sagen, daß sowas damit schon am Ende ist, oder Tribalismen keine Möglichkeit mehr sind. Aber sie brauchen eine weitere Bestimmung.
FRAGE: Noch mal gefragt. Was wäre dann der Unterschied zu reinem Entertainment? Unverständlichkeit ist ja ein Begriff, der sich ausschließlich an Problemen der Kulturindustrie orientiert.
DIEDERICHSEN Das ist ja auch das Problem. Denn wenn ich sage, sie brauchen eine weitere Bestimmung, dann ist diese Bestimmung natürlich wieder etwas, das sich anhört wie ein Sinn. Aber es geht ja gar nicht um Sinn. Denn wenn wir jetzt den Unterschied machen zwischen enthusiastischen, euphorischen Arme-in-die-Luft-parties und aggressiven Parties, dann sind das ja keine unterschiedlichen Inhalte. Das läuft ja auf einer fast schon viszeralen Ebene ab.
Dieser Unterschied, und die Bestimmung, die man von außen in der Analyse macht, ist auch gar nicht mehr mit solchen Mitteln zu schaffen wie: Fortschrittlich oder rückschrittlich.
"funky"
FRAGE: Du überträgst dann ja auch auf Sachen wie den "groove" so was wie eine geschichtliche Aufgabe, Subversivität zum Beispiel. Im Bezugssystem von "vermarktet und geklaut". Kannst du anhand von bands oder bestimmten Entwicklungen in der aktuellen Musik sagen was das genau heißt?
DIEDERICHSEN: Was man sagen konnte, oder worauf sich das bezieht ist: "grooves" sind von allen Elementen von Musik am wenigsten Autor-bezogen und am wenigsten inhaltlich bestimmt. Aber sie haben natürlich trotzdem eine Wirkung und Bedeutung, die zu bestimmten Zeiten für bestimmte Leute klar ist.
Und dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Sie werden entweder entwertet, indem sie auf eine bestimmte industrielle Weise vereinfacht, verhunzt oder sonstwas werden und plötzlich in andere Bereiche vorstoßen. Und dann kann man sie sich zurück umcodieren. Das ist die ganze Geschichte von funky beispielsweise.
Da gibts ja viele interessante Stadien. Als zum Beispiel die englische new wave funkyness anfing, als bands, die vorher düstere Musik gespielt hatten auf einmal funky wurden, a certain (way of ?) funky wurden (, zu dem Zeitpunkt) war Funk aber ja in Amerika gar nicht mehr so viel wert für die Leute, für die ein funky groove mal was bestimmtes bedeutet hat zu einen bestimmten Zeitpunkt. Dann gab es plötzlich eine Wiederaneignung des funky groove durch diese ganzen New Yorker, Defunkt und solche Sachen, die lustigerweise zum selben Zeitpunkt stattfand wie die englische Aneignung. Und plötzlich bedeutete das wieder was anderes. Das sind solche Geschichten.
Die passieren nicht nur im Spannungsfeld zwischen den eigentlichen Besitzern und der bösen Kulturindustrie die das zerstört, sondern im Spannungsfeld zwischen allen möglichen verschiedenen denkbaren Besitzern, die was verschiedenes damit machen. Und das was sich dabei ergibt, was so was ist wie Bedeutung, aber eben nicht Bedeutung im Sinn von Semantik, sondern eine - naja subsemantische, was weiß ich - jedenfalls schwer zu bestimmende Art Bedeutung eben auch physischer Natur, das ist dann eben geschichtlich. Und dann kann man sagen. Zu dem und dem Zeitpunkt bedeutete das das und das.( Hegelsche Variante: dieses das und jenes, d. Skribent). Irgendwann gab es dann die Hip Hop Aneignung von Funk. Zwar hat Hip Hop sich auch immer funky genannt und funky ist ja auch ein allgemeinerer Begriff. Aber es gab einen ganz bestimmten Zeitpunkt, als plötzlich alle Leute anfingen James Brown zu sampeln und als alle irgendwann wieder damit aufhörten.
Verhältnis Kritiker zeitgenöss. Musik
FRAGE: Zwischenfrage. Kannst du dein Verhältnis zu diesem lauten Gewimmel der verschiedenen tribes, die sich in den von dir eben genannten Weisen äußern, beschreiben? Ist es ein kontemplatives, oder ..?
DIEDERICHSEN: Es tendiert dazu, immer kontemplativer zu werden. Immer dann, wenn ich denke, es ist nur noch kontemplativ, passiert irgendwas, was dieser Kontemplation ein Ende macht und eine stärkere Einbezogenheit mit sich bringt. Aber auch darüber hinaus gibt es diese generelle Tendenz. Sagen wir mal so. Das physische Affiziertsein davon nimmt stark ab.
Aber daraus kann man ja auch was lernen. Meine Begeisterung für Ragga muffin` - was eine Musik ist, die, weil sie doch zu abseitig ist, eigentlich nicht in der Gefahr besteht, im großen Maße kommerzielle Bedeutung zu bekommen und damit diesen ganzen Widersprüchen ausgesetzt zu werden - ist für mich dann so was wie ein Reservoir, in dem diese physische Seite weiter existieren kann, ohne daß ich diese anderen Probleme noch gleichzeitig damit hätte.
Das ist übrigens eine Entwicklung, die man häufiger beobachten kann bei alternden Rockkritikern.
Deren Begeisterung für Reggae ist ja geradezu ein historisches Phänomen. Rainer Blome, der erste Sounds Chefredakteur - er ist 74/75 ausgeschieden - ist danach mit ´nem soundsystem über die Lande gezogen. Oder nehmen wir Thea Schwaner. Es gibt so viele Leute bei denen der Versuch, sich diese Dimension zu erhalten, dann irgendwann zu Reggae geführt hat, oder zur afrikanischen Musik. Jetzt nicht als Exotismus, das ist es bei mir ja auch nicht. Sondern einfach weil man da ein Reservat hatte, wo die Erinnerung an die physische Seite des "groove" ungestört bleiben konnte. Also im Sinne dieser Idyllik, von der wir anfangs sprachen. Natürlich schon im Bewußtsein ,was das ist.
Sterben Alter Pop Ideen
SPEX - Rückzug
FRAGE: Also du gehst mit dieser dread beat night auf tour, und hast eben Reggae, in deinem Fall Ragga muffin` als den Alterssitz eines Rockkritikers angesprochen.
Du hast dich ja immer wieder mal eine Weile für Musik interessiert, dann wieder ne Zeit lang nicht. Dazu gibt es diese nette HüskerDü Anekdote. Kann man deine wechselnden Beziehungen zur Musik, das reine Interesse, das Scheitern eines Projekts, kein Interesse mehr und so fort, an konkreten Punkten festmachen? Wann hat es dir gelangt, daß deine Generationsgenossen gescheitert sind in ihrer Kulturarbeit.
DIEDERICHSEN: Also heute würde ich gar nicht mal sagen, daß die gescheitert sind. Also nicht viel mehr, als die Vorgängergenerationen auch. Außerdem. Das mit Reggae jetzt, das hab ich vorhin schon gesagt, das ist ein Reservat für eine ganz besitmmte Art sich für Musik zu interessieren.
Die HüskerDü Anekdote bezieht sich ja darauf, mit Musik alles mögliche zu verbinden, dann aber wirklich alles abzuziehen und dann plötzlich wieder alles mögliche. Das war ja noch so ein primäres Ergriffensein. Das war ja noch unabhängig von jeder Bezugnahme auf damit verbundene Projekte die gescheitert sein könnten. Beim Abziehen von Interesse schon, aber beim Wiederaufnehmen nicht.
Und in den letzten Jahren - da daraus mehr eine kontemplativ analytische oder sonstwie Haltung geworden ist - kann man mich nicht mehr so sehr enttäuschen.
FRAGE: Gelassenheit?
DIEDERICHSEN: Ja. Wobei ich speziell in den letzten drei Jahren nichts so gerne getan habe wie Platten hören und besprechen. Aber ohne damit soviel zu verbinden wie früher.
FRAGE: Wäre das ein Grund für deinen Rückzug aus dem Musikteil der SPEX?
DIEDERICHSEN: Ich zieh mich imgrunde genommen nur aus einem Teil der Musik zurück, nämlich dem, wo Interviews mit Musikern statt finden. Weil genau das ist es, was ich nicht mehr mag.
Das kann man nur dann tun, wenn man mit den Personen irgend was verbindet und glaubt die Personen stünden für das ein, was die Musik verspricht.
Meine letzten Artikel dieser Art sind dann auch so geworden, daß da nur zehn Zeilen Interview und sechs Seiten drumherum waren. Das war ja dann irgendwann nicht mehr haltbar in dieser Form Musikerinterview oder Spextext.
Plattenkritik, die sich nur mehr auf das bezieht, was ich mit dem Endprodukt anfange, oder was man mit dem Endprodukt anfangen könnte, geht ohne weiteres. Alles andere geht auch. Was nicht mehr geht ist dieses Musikertreffen.
FRAGE: Du warst ja auch sehr wichtig für den ganzen Rahmen, die Klammerfunktion, die SPEX gegenüber den verschiedenen Fraktionen von Subkultur über die diversen tribes hinweg mal hatte. Und aus der Rolle hast du dich ja zurückgezogen auf den Kulturteil?
DIEDERICHSEN: Ja. In dem Kulturteil wird ja auch nicht dazu Stellung genommen. Der versucht ja auch keine Klammer zu liefern, sondern das ist ja sowas wie eine kommentierte Literaturliste im Prinzip, nicht. Das ist der Versuch, Informationen kursieren zu lassen. Das ist ja kaum gefärbt von übergreifenden Erklärungen.
FRAGE: Die Frage ging eher in die Richtung, ob da wieder ein Punkt da ist, wo du dich zu Tode interessiert hast an der Sache.
DIEDERICHSEN: Nein, nein. Das ist es nicht. Der Grund, warum ich nicht mehr Redaktion hier mache ist ein anderer. Darüber haben wir vorher schon gesprochen. Das ist ganz einfach. Das wäre eben nur noch möglich gewesen, wenn ich alles, was mich sonst noch so interessiert dort mit integriert hätte. Das wäre aber zuviel geworden. Das war auch nicht mehr praktikabel. Ich habe dann für Artikel zu lange gebraucht.
So was, wie der Deep freeze mind-Artikel oder die Sachen in dem 100er Heft sind alle schon so wahnsinnig lang. Also gibt es nur die eine Konsequenz. Nämlich die Sachen da zu veröffentlichen, wo man länger schreibt und in größeren Abständen und so weiter.
FRAGE: Was damit jetzt wegfällt in Spex ist, so eine Art von historischer Musikbeschreibung, von historischen Aufladungen, wie das der Greil Markus zum Beispiel praktiziert, also bestimmte Ketten der Musik anfangen lassen. Das gibst nun nicht mehr zugunsten eines reinen Spezialistentums mit Ausnahmen wie Tekessides, bei dem dann Theorie...
DIEDERICHSEN: Genau , das ist ein gutes Beispiel, weil der nämlich das ja auch betreibt, aber eben von einer anderen Generationsperspektive aus.
FRAGE: Aber hier läßt sich ja der Vorwurf anbringen und von einigen Freunden habe ich den auch schon gehört, daß diese Art theoretisierender Musikkritik eben nur schlecht nachgemachter, rekonstruierter Diederichsen sei, also eben nicht das, was man hätte erwarten oder vielleicht wünschen können. Daß da nämlich ein jüngerer die Nachfolge antritt.
DIEDERICHSEN: Also so war das auch nicht gemeint eben und so was soll ja auch nicht sein. Ich will damit nur sagen, daß die Möglichkeit der historischen Aufladung ja nicht aufhört, wenn eine besimmte Generation weniger schreibt, wie Clara und ich.
Mittlerweise ist ja auch seit dem Einstieg derjenigen, die jetzt das Heft bestimmen, soviel Zeit vergangen, daß sich da auch wieder Zyklen gebildet haben, daß also auch ein bestimmtes Verständnis von der Sache da ist, das anders ist, als unseres damals. Und das wird sich auch irgendwie entwickeln. Marks Ansatz ist halt eine Möglichkeit. Aber da müßte man mit den Leuten selber reden.
FRAGE: Du selbst hast ja mal geschrieben, daß das Spezialistentum in eine Idyllik führen kann, die dann den Esoteriktod stirbt. Siehst du diese Gefahr heute noch?
DIEDERICHSEN: Ja, aber jetzt nicht unbedingt bei SPEX, sondern - und darauf war das damals auch bezogen - auf die Indiewelt. Und die Gefahr besteht ja auch tatsächlich. Das sieht man ja auch daran, was da alles Bankrott geht.
Auf der anderen Seite muß man natürlich auch sagen. Jedes Jahr in den letzten fünf Jahren gab es mehr Konzerte in Köln. Jedes Jahr werden es noch mehr und noch mehr und noch mehr. Und es kommen genug Leute hin. Eigentlich mehr als vorher. Also so stimmt das auch wieder nicht. Für eine bestimmte Art sagen wir mal stimmt es. Zum Beispiel für eine ganze Welt rund um die TV Personalities. Die ist ja genau so einen Tod gestorben. Einige wenige davon haben sich dann noch zu Rave hinübergerettet. Da hat noch so was überlebt wie die englische Popmusikidee. Und so was hatte ich mal vor Augen. Ich hab ja mal ein Buch angefangen mit einem TV Personalities-Zitat.
Popstandpunkt
FRAGE: Für diese Idee steht ja auch der Olaf Dante Marx mit dem du angefangen hast. Der fährt das Programm ja noch weiter mit seinen teilweise absolut rüden Attacken gegen Hip Hop. Gibt es da noch Gemeinsamkeiten. Kannst du dir vorstellen, daß er mal wieder für SPEX schreiben wird.
DIEDERICHSEN: Wir haben das ja versucht. Und es kam halt dieser Artikel raus, der in der 10Jahresnummer steht und den ich absolut unbefriedigend fand. Wo er seinen Widerspruch darüber versucht hat herzustellen, indem er sich einen Pappkameraden aufbaut, der Blödheiten oder Positionen rausläßt, die ja gar kein Mensch vertritt. Das ist ja gar nicht das Gegenüber, mit dem er sich streiten müßte.
Wir haben uns nochmal danach kurz getroffen, aber es ist ziemlich zwecklos geworden, da noch Verständigung zu schaffen. Ich habs oft genug, vielleicht zuwenig, aber doch ein paar Mal versucht, Ich denke, das hängt auch zusammen mit Verhältnissen in Hamburg.
FRAGE: Es sieht ja so aus, als ob es für Olaf Dante Marx Chartspop als unbekanntes Phänomen noch immer zu geben scheint. Ich erinnere mich an ein Ding in Tempo, da gings wohl um die Pet Shop Boys, das hat mich wirklich geschockt, der Text, vielmehr das um sich schlagen mit diesem längst in die Jahre gekommenen Pop-Programm.
DIEDERICHSEN: Ja, er stellt sich ja auch in diesem zuletzt für uns geschriebenen Artikel auf die Position, es sei ihm scheißegal, ob so eine Einschätzung zutrifft: Public Enemy gleich Heterosexismus. Das ist ihm einfach schnurz. Für ihn ist es halt so und verantwortlich darüber zu schreiben sei eh reaktionärer Scheiß - würde er nicht sagen - sei eh Scheiße und spießig. Was soll das, ich bin hier und amüsier mich und das ist sowieso die einzige Haltung, mit der man dem Geist von Pop gerecht wird.
Und solange es so ist, finde ich das auch vertretbar. Nur finde ich es nicht mehr verständlich, wenn man dann einer ganz bestimmten musikalischen Form, die einem wirklich nur dann Spaß machen kann, wenn man verbissen dahinter her ist, verbunden ist.
Was ich eben auch nicht verstehe und nicht gut heißen kann sind diese ganzen ad hoc Urteile über alles mögliche. Von Jimy Hendrix bis... Public Enemy kriegt dann noch einen Nebensatz ab. Und das ist ja auch alles immer falsch. Sachlich Quatsch. Also ich weiß nicht was das soll.
FRAGE: Das heißt, die Idee von Pop ist also für dich tot und also in Spex auch nicht mehr zu berücksichtigen. Oder das dazu passende Programm.
DIEDERICHSEN: Ich könnte mir vorstellen, daß man das interessant machen kann. Ich kann mir auch vorstellen, daß man mir diese Position nahe bringen könnte. So wie er das jetzt macht gelingt das nicht. Aber doch, ich könnte mir vorstellen, daß es diese Position geben könnte. Nur vertritt sie keiner vernünftig, oder will sie keiner hier vertreten.
Beziehungsweise Hans (Nieswandt) und Dirk Scheuring vertreten sie ja auch gelegentlich in Ansätzen. Die Belle 50 vogue-Kritik von Dirk ging ja in diese Richtung. Nur eben ganz anders als Olaf Marx das sieht.
Also ich sag nicht, daß diese Idee für immer verschwunden ist, aber mir ist sie auch nicht sehr attraktiv, weil ich diese ganze Musik einfach nicht ertragen kann. Weniger jetzt Chartspop. Das ist nicht das Problem, sondern die englische Melodieästhetik. Also das, was man in England seit Menschen gedenken für eine schöne Melodie hält, hat für mich an Verführungskraft doch stark verloren. Also habe ich auch wenig Lust mich damit zu beschäftigen.
Skeptiker Retro - Urteile
FRAGE: In deiner Konkret - Kritik von dem Hamburg Sampler wird ja dieser 82er Ästhetikaufstand abgewertet zugunsten einzelner Texte aus diesem Punksampler. Würdest du sagen, denn diese Bewertung ist ja retrospektiv, daß ähnlicheTexte, beispielsweise von diesen "Skepikern" aus Ostberlin, die heute das machen, was auf solchen Punksamplern zu hören ist, noch, oder wieder funktionieren können. Oder ist das positive Urteil über den brachial politischen Punktext nur ein historischer Nachtrag gewesen?
DIEDERICHSEN: Ja das ist eine Retrobeurteilung. Und ich würde ja auch nicht sagen, damals war ABC hören falsch. Wir hätten lieber slime hören sollen. Sondern ich sage: Natürlich ist das verständlich, daß man damals für ABC war. Aber man hat damit notwendigerweise das Richtige an slime vergessen, oder nicht mitbekommen. Man kriegt immer was nicht mit, was auch noch dazu gehört. Und so ist es natürlich auch in der Gegenwart.
Die Skeptiker sagen mir irgendwie nicht viel und es ist äußerst verständlich, warum die band so ist wie sie ist und sie ist möglicherweise auch lokal völlig in Ordnung.
Nur damals schon war es mir nicht möglich slime gut zu finden, oder mich für slime noch zu interessieren. Und es fällt mir heute noch viel schwerer dasselbe mit den Skeptikern zu tun.
Es ist natürlich genauso denkbar, daß ich in zehn Jahren sage, das war ein Fehler. Man hätte das damals schon hören müssen. Man hätte 91 die Skeptiker hören müssen. Das war die wichtige Stimme. Aber ich bin nun mal in dem Dilemma, daß ich verlange in irgendeiner Weise auch persönlich, sei es nun physisch oder intellektuell, angesprochen zu werden.
Journalistische Haltungen
FRAGE: Betreibst du eine Art persönliche Politik, insofern du dir überlegst und dich entscheidest in welchen Medien deine Texte erscheinen und in welchen nicht?
DIEDERICHSEN: Ja sicher. Bloß, das ist mittlerweile keine Politik mehr. Die Phase in der das eine Politik war, war vielleicht zwischen 83 und 87. Danach war das dann eh klar. Also in den ersten drei Jahren hat TEMPO immer noch mal gefragt. Aber jetzt fragen die auch nicht mehr. Höchstens mal, wenn ein neuer Redakteur kommt, der das noch nicht weiß.
Eine andere Sache ist, daß ich eine Zeit lang gedacht habe: ganz streng beschränken. Das denke ich heute auch nicht mehr. Ich habe nichts dagegen hier und da zu erscheinen. Bloß eben in bestimmten Sachen nicht.
FRAGE: Daß du im SPIEGEL seit längerer Zeit keinen Text veröffentlicht hast ist Zufall?
DIEDERICHSEN: Ja und nein. Also ich hatte ja einen 89 noch mal, oder 90, ich weiß gar nicht so genau wann das war. Über Madonna. Das lag daran, daß da plötzlich wieder einer da war beim SPIEGEL der inzwischen auch wieder nicht mehr dort ist, der die Zerwürfnisse, die in den mittleren 80ern gelaufen sind nicht mitbekommen hat.
Und es hat halt soviel Streit gegeben, daß es inzwischen schon egal ist.
JÖRG SCHRÖDER
FRAGE: Dazu gibts ja auch eine nette Schröder-Geschichte. Hast du Lust uns die von deiner Warte aus zu erzählen?
DIEDERICHSEN: Welche Schröder-Geschichte?
FRAGE: Na die Sache mit der bestellten und im SPIEGEL nie gedruckten Mamut Rezension.
DIEDERICHSEN: Ja gut, das ist eben eine typische Schröder-Geschichte. Ich habe damals eine Mamut Rezension geschrieben und Rainald Goetz hat auch eine geschrieben und die sind beide nicht gekommen. Redakteur war seinerzeit der berühmte Schultz-Gerstein.
Schröder wittert dahinter natürlich eine groß angelegte Verhinderungsaktion. Ich kann es nicht beurteilen. Ich glaube normalerweise nicht an so was. Ich denke, daß das alles viel schoofler funktioniert. Auf der anderen Seite. Wenn man viel Schröder liest, dann bekommt man natürlich auch wieder das Gefühl, der hat vielleicht doch recht mit all seinen Verschwörungstheorien.
FRAGE: "Verschwörung" ist bei Schröder ja immer nur Bestandteil einer die Verhältnisse charakterisierenden Geschichte. Die muß ja nicht der kausale Grund für die Verhinderung gewesen sein.
DIEDERICHSEN: Ich meine Schröder beschreibt das schon so, oder hat es mir gegenüber mal so beschrieben, als wäre es tatsächlich so: Die SPIEGEL Chefetage will nicht, daß ein Text über ihn drin steht und dann wird das verhindert. Und Schultz-Gerstein hatte nie die Traute sich dagegen zu stellen und war da die kleine Nummer. Also das ist schon eine These, wo er sich das also ganz verschwörungstheoretisch vorstellt. Und vielleicht ist es ja auch so. Man hat da ja schon einiges erlebt und Pferde kotzen sehen.
Aber wenn du jetzt sagst, Verschwörung muß nicht so was sein, dann fällt mir gerade ein - und damit käme man zu Hip Hop zurück - es ist ja in den ganzen USA in der schwarzen Bewegung immer diese Theorie, es gäbe eine weiße Verschwörung via AIDS und Drogen wie Crack die Schwarzen auszulöschen. Und da lacht man sich ja auch immer kaputt, denn so ist es natürlich nicht. Aber Harry Allen hat gerade in der Zeitung Sun City was ganz interessantes gesagt, was heißt interessant, es ist ja imgrunde nahe liegend: Verschwörung ist natürlich nicht eine mad scientist Sitzung unter irrem Gelächter und batman-Figuren in einem dunklen Raum mit einer Glühbirne die sich da überlegen: "...so jetzt werden wir mal mit AIDS...", sondern es ist natürlich einfach Koinzidenz. Koinzidenz von verschiedenen Aktivitäten. Da muß man nicht unbedingt ein gemeinsames Subjekt rekonstruieren.
So gesehen stimmts natürlich, denn über diese neuen Schröder Bücher schreibt ja auch kein Mensch. Das ist ja wirklich interessant. Da ist ja einiges los. Und kein Mensch schreibt darüber. Du liest nirgendwo was.
FRAGE: Es gibt schon ein paar Artikel. Also eine ziemlich blöde Rezension in Vogue gabs mal und Schröder selbst redet von ´ner dicken Jubelmappe mit FAZ und taz und -
FRAGE: Wobei du aber auch sagen mußt, daß der Schröder damit nur Ankündigungen seiner Lesungen meint, darüber hinaus sich nicht groß um PR kümmern und mit dem liberalen Feuilleton eh nichts mehr zu tun haben will.
DIEDERICHSEN: Ja ich wollte ja auch seine Verfolgungsvorstellungen stützen, indem ich sage: Ich habe nicht gesehen, daß an irgend einer prominenten Stelle über diese Sachen was steht, obwohl es doch nun interessant ist.
Selbst im Sinne von "eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus", was da an Enthüllungen über Augstein, Springer etc. drin steht, könnte ja die jeweiligen Gegner interessieren. Da könnte ja die BUNTE Illustrierte oder wer auch immer ein Feind von Augstein ist, könnte ja sagen: "Hier: Augstein!, interessante Geschichte, gutes Buch." Oder umgekehrt. Aber das passiert eben nicht, weil da von der ganzen Sache her schon klar ist, daß sich das gegen alle richtet. Und auch in konkret stand darüber noch nichts.
FRAGE: Schröder meint halt, das dauert eben immer eine Weile, bis sich das, was er erzählt umsetzt, bis die Geschichten durch die ganzen Medienschaltstellen durchgesickert sind und einer dann mal irgendwann glücklicherweise, oder zufällig wirklich schaltet und es dann knallt. Also so eine Kairos-Sache.
FRAGE: Im Fall von Konkret hat er ja gesagt, er sollte einen Beitrag für das Gremliza Geburtstagsbuch schreiben und dafür wollte er natürlich eben auch Kohle haben. Und dann haben sie ihn halt nicht mehr angerufen und er bekommt jetzt keine Konkret mehr umsonst. Der Amendt sei halt drinn, und der kommt halt auch vor in seiner Springer-Geschichte.
DIEDERICHSEN: Aber doch jetzt in der ganz neuen erst. Die Sache mit dem Jubelbuch für Gremliza war ja viel früher. Haha .Ja ja.
FRAGE: Nein, zu Amendt sagt Schröder ja nur, daß seit die Folge, in der Amendt vorkommt draußen ist, er kein konkret mehr freihaus bekommt. So billig läuft das.
DIEDERICHSEN: Auf der anderen Seite. Was mich halt immer bei aller Begeisterung an der Sache stört, was mich unbefriedigt läßt, ist, daß alles an Charakteren ausgetragen wird, die im Grunde genommen gar nichts mehr zu sagen haben, oder kurz davor sind, nichts mehr zu sagen zu haben.
Das ist auch schon wieder Vergangenheitsbewältigung. Springer ist tot. Augstein wird es auch nicht mehr allzu lange geben und das was auf niedrigerer Ebene verhandelt wird, Schultz-Gerstein zum Beispiel, das sind ja alles auch tote Leute oder Leute, die ihre Bedeutung in dem Kontext, in dem Schröder sie beschreibt längst nicht mehr haben. Es wäre wirklich klasse, wenn es da mal den Anschluß an die Gegenwart gäbe. Es gibt bestimmt aus den Redaktion und Verlagen der 80er Jahre eine Menge zu erzählen.
FRAGE: Schröder hat das ja angekündigt.
FRAGE: Eine Goetz-Geschichte.
FRAGE: Du hast in Swoon einmal vor Jahren gesagt - da war die Frage was du dir vorstellen kannst weiter zu schreiben -Kunstkritik.
Ist es für dich heute noch ein interessantes Gebiet: Kunst, Kunstkritik?
DIEDERICHSEN : Das ist noch ein interessantes Gebiet. Aber nicht mehr, als es damals war. Also das tu´ ich ja auch. Aber ich schreibe nicht über Ausstellungen, selten über einzelne Künstler.
FRAGE: Du hast mal in einer Besprechung von Koons und Kippenberger mit dem lustigen Satz abgeschlossen, daß es das, was auf den Bildern zu sehen ist, "wie immer bei mir nicht zu lesen gibt".
DIEDERICHSEN: Genau. Denn das ist halt immer der ewige Konflikt hier mit den Kölner Kunstkünstlern: "Du siehst dir die Bilder nicht an!" "Nein, ich seh mir die Bilder nicht an!" Und genau so iss es.
Weil da gerade wieder so was gelaufen war, hab ich den Satz darunter geschrieben.
FRAGE: Also war das ne reine polemische Spitze und kein kleiner Aphorismus, in dem sich, wie in ner Nußschale so was wie ein Konzept verbirgt?
DIEDERICHSEN: Nein, es ist ja tatsächlich so. Ich meine, ich schreib ja seit Jahren über Kunst, ohne daß ich über Bilder schreibe oder – Kunst besteht ja nun nicht nur aus Bildern – ohne daß ich jetzt das, was der Maler oder was auch immer da wirklich tut, oder seine Sensibilitäten und seine Verweise etc. mich groß interessieren. Ich meine, man könne da auch anders drüber schreiben.
Also das letzte was ich da gemacht habe, war ein Interview mit Hans Peter Zimmer, einer der Mitbegründer der Gruppe Spur, der auch kurz mal bei den Situationisten Mitglied war, mit den ganze Spur-Leuten zusammen zwischen 58 und 61. Und das waren dreißig Seiten Interview wo kein einziges Mal von Bildern die Rede war. Bei ihm schon mal. Er ist ja schließlich Maler. Aber das geht, nicht wahr.
FRAGE: Ja mit mir gibt es da auch kein Problem.
FRAGE: Also dann gehts in die Richtung Texte zur Kunst. Wenn, dann also für die arbeiten.
DIEDERICHSEN: Ja es gibt viele Gemeinsamkeiten mit "Texte zur Kunst". Vor allem die ganze Orientierung an amerikanischen Aktivismen, die auch hier ziemlich unbekannt sind. Und das mit bekannt zu machen, da bin ich mit denen dabei. Aber ansonsten. "Texte zur Kunst" schließt ja nicht aus über Bilder zu schreiben. Es gab ja, das war fast schon wieder eine Parodie davon, ich glaube in der ersten Nummer von T.z.K. so zehn Zeilen Text von Michael Krebbe über Baselitz, wo er eben wirklich darüber schrieb, was auf den Bildern ist. Also so was machen die auch.
Ich hab auch nichts dagegen, weil irgendwelche Aussagen, die durch meine Art von Kunstbetrachtung gemacht werden, sind dadurch nicht relativierbar oder zu entkräften.
Und das ist es auch, worauf das Koons/Kippenberger-Ding abzog, indem ich sage, da kommt nicht vor, was auf den Bildern drauf ist, was natürlich bei Koons und Kippenberger wirklich dann – es ist zwar nicht egal, was da drauf ist, aber wie die das meinen, die Handschrift etc. ist ja wirklich egal.
FRAGE: Man könnte sich zu dem kleinen Satz ja tatsächlich einen Standpunkt ausdenken. Die folgende Forderung hast du ja in deinem Todesblei-Artikel nach dem Mauerfall zitiert: Anamnese der Genese!, wobei der Witz in der Kunstkritik der wäre, daß man sich die Genese erfinden muß, weil es keine äußeren sichtbaren Zeichen von Geschichte mehr gibt. Oder als Frage formuliert: Ist es nicht völlig egal, ob es den Gegenstand, der da beschrieben wird, überhaupt noch gibt?
DIEDERICHSEN: Nein und dann doch wieder ja, insofern es darum geht: Hat eine Gruppe oder haben wir ein Interesse ihn zu rekonstruieren? Und das ist der entscheidende Punkt. Also: Gibt es ein Soziales das ihn braucht? Wenn ja, wie machen sie das, wie gehen sie damit um? Und dann Kategorien finden, ob es dafür ein richtig und ein Falsch gibt im Umgehen und bei der Konstruktion.
Aber im Prinzip ist es dann wirklich egal, ob es die Gegenstände gibt, ja.
FRAGE: Läßt sich das Prinzip in deinem Fall auch als Schreibposition radikalisieren im Sinne von: "Ich schreibe diese Form der Kunstbetrachtung fort, auch wenn der Gegenstand nur mehr durchs Schreiben entsteht, oder in einem so realisierten Programm entwickelt wird?"
DIEDERICHSEN: Ja da habe ich die Antwort schon gegeben. Wenn das Interesse besteht. wenn es eine Gruppe gibt, die das lesen will, die ein Programm haben will, dann ist es egal, ob es ein Lagerfeuer gibt, um das sich das gruppiert. Solange sie ein Lagerfeuer haben wollen, kann man auch von einem Lagerfeuer erzählen. Das ist ja auch der eigentliche Austausch, den man mit der Gruppe hat.
FRAGE: Das wäre die nächste Frage. Hast du einen bestimmten Adressaten, brauchst du keinen, oder ist das für dich im Moment keine Frage?
DIEDERICHSEN: Weiß ich nicht. Doch, ich glaube, ich habe einen Adressaten, wie wir eben schon anläßlich dieser Koons/Kippenberger-Geschichte festgestellt hatten. Das sind halt irgend welche Leute, die irgendwas dazu gesagt haben.
Bei Zeitschriften ist das anders. Also bei Konkret ist es so, daß ich an die Leute denke, die da sitzen.
FRAGE: An den Piwitt?
DIEDERICHSEN: Nein an Piwitt denke ich nun bestimmt nicht.
Der Piwitt
FRAGE: Ist das eine Hassfigur von dir? Wenn ich an deine 1500 Plattenkritiken denke. Da kommt der als typischer linker Feuilletonist vor..
DIEDERICHSEN: Ja das ist schon ne Art Hassfigur, weil ich das einfach so grauenhaft finde, diese Haltung, diese selbstgefällige Altmännerhaltung, die der hat, und dann daraus auch noch jetzt seit einiger Zeit so was wie Radikalität. Unglaublich harte Verdikte und dann aber wieder so schleim schmier sich in der eigenen Sprache suhlen und toll finden, wie man so schreibt. Das finde ich also nun grässlich.
Den Typen kenne ich gar nicht. Ich weiß auch gar nicht, ob der vielleicht ein netter Mensch ist. Das gibt es ja öfters, daß Leute, die echt schlimme, ganz schlimme Texte machen in wirklichkeit ausgesprochen freundliche Leute sind. Aber so wie der aussieht, scheint mir das ein und dasselbe zu sein.
Aber um auf die Adressatenfrage zurückzukommen. Ich meine natürlich die Leute, die das bearbeiten. Die, mit denen ich telephoniere bei konkret. Das sind eben Wolfgang Schneider oder Hermann Gremliza. Neuerdings haben sie noch einen anderen da. Mit denen redet man natürlich auch über Texte. Und an die denkt man, wenn man schreibt.
Also ich schreibe eigentlich immer erst mal so drauf los. Dann, wenn man etwas geschrieben hat schaut man es sich an und wenn man über einen Gegenstand schon mal mit irgendwem anders geredet hat, dann kann man natürlich immer gut kucken, was würde der jetzt dazu sagen. Das ist auch noch so ne Möglichkeit.
FRAGE: Aber da gibt es redaktionell keine Schwierigkeiten. Ich erinnere mich da an eine Napalm Death Kritik in konkret. Also daß so was durchgeht...
DIEDERICHSEN: Ach so. Doch, durchgehen tut da alles.
Dissidenz
FRAGE: Kommen wir nochmal zu einem Begriff: Dissidenz. In den Texten ist "Dissidenz" nicht sozial verankert. Für mich hat sich der Begriff immer nur als theoretisches Konstrukt dargestellt.
DIEDERICHSEN: Das war ja auch nur der Versuch, ein Wort zu finden für Leute, die mit ihrer Umwelt, ihren Lebensbedingungen nicht einverstanden sind, obwohl sie keinen primären Anlaß haben - weil sie massiv in ihren Chancen beschnitten wären. Leute, die alle Chancen haben: Was haben die für Gründe (zumindest vorzugeben), Außenstehende zu sein. Um das mal zu unterscheiden von denen, die jeden Grund dazu haben, der leicht einsehbar ist.
Dieses Wort - das mir langsam auch wieder zum Halse heraushängt, aber ohne, daß es dafür einen bestimmten Grund gäbe - wurde ja ursprünglich einmal benutzt für abweichende Meinungen im realen Sozialismus. Immer davon ausgehend, daß der reale Sozialismus keine Unterschiede zuläßt, sondern totalitär nur eine Position erlaubt. Ich habe dieses Wort gewählt, weil es das Ideal einer solchen Position sein müßte, demjenigen zu Ausdruck zu verhelfen, das auch hier nicht zugelassen wird.
Dreadbeat
FRAGE: Du hast vor zwei, drei Monaten in einem Text in Spex über einen Abend in München geschrieben, den ich etwas rätselhaft finde.
DIEDERICHSEN: Ja, Friesenwall 120 hieß der.
FRAGE: Ja
DIEDERICHSEN Rätselhaft? Was ist die Frage? Worum es da ging, oder was?
FRAGE: Nein, meine Frage wäre nach den bestimmten Personen, zum Beispiel Maxim Biller. Warum die dort vorkommen
DIEDERICHSEN: Ja die gehören halt auch dazu. Die Geschichte ging eben über den Friesenwall 120. Das ist so ein Kunstaktivistenversuch hier in Köln, der halt schon eine Weile läuft, den wir auch schon in SPEX erwähnt haben. Und der tritt halt hier zum ersten Mal nach außen. Jetzt testen wir das und wollen mal sehen was da raus kommt.
Dann bin ich auch noch selber involviert, indem ich da eben Platten auflege. Dann ist da auch noch dieser Dachs, der Mäzen mit seinem Porsche Geld. Und das ist ja auch so eine Sache, daß da die Galerie Nagel, die so das innovativste hier am Platze ist, mit dem zusammen arbeitet, was imgrunde genommen von aller Welt als ein großer Segen gewertet wird für die Galerie. Weil da eben überaus fortschrittlich.... und keine Ahnung..., also diese ganzen Sachen kommen da eben zusammen. Und dann zur selben Zeit betreibt Hilka Nordhausen, die sozusagen in Hamburg in den siebziger Jahren eine ähnliche Rolle gespielt hat, Vergangenheitsbewältigung. Es gab ja dieses Buch von ihr und dann dieses Interview, auf das ich da in dem Text Bezug nehme.
FRAGE: Auf was die Frage womöglich hinauslaufen sollte, war eine feine womöglich melancholische Polemik, die der Text transportiert. Wir hatten jedenfalls den Eindruck, daß du als DJ da eine Rolle spielst, die dir vielleicht nicht hundertprozentig paßt.
DIEDERICHSEN: Die zumindest ausgesprochen kurios ist. Aber das war von Anfang an ja klar, daß das eine ganz kuriose Geschichte wird.
Eine der Ideen zu dieser Veranstaltung war ja, Kölner Insitutionen, in diesem Fall diese Dreat beat Geschichte, was ja hier alle 14 Tage seit nun mehr drei Jahren statt findet, dahin zu transportieren. Daß das schließlich eine leicht eigenartige Angelegenheit ist, war klar. Das gehört ja mit zum Friesenwall Konzept, so was zu machen. Dazu gehört dann auch fast schon zwingend, zu beschreiben, wie das wirklich war.
Und dann war es so, daß diese Seltsamkeit in bestimmbare Einheiten zerfiel. Nämlich erst mal diese komische Jugendarbeit, die die da machen wollten und auch gemacht haben und dadurch ein Publikum da ist. Dann eben die konventionelle Kunstwelt und schließlich Leute, die tatsächlich damit zu tun haben und normalerweise auch zu dreat beat kommen würden. Und dann plötzlich das Abbrechen um 12 Uhr aus sonstwie Gründen.
Das alles zusammen schien mir einfach kurios genug um es mal zu beschreiben. Auch eben als Momentaufnahme von so einer Art künstlerischer Praxis.
Und daß dann hinterher immer in München dazu gehört, daß man da ins alte Babalu oder ins neue Babalu, oder in beide geht, und dann eben die Leute trifft, die man in München kennt. Und zwar so verschiedene wie Maxim Biller und Stephan Gehne(?), die aber zusammen kommen in diesem Moment.
Ich hätte wirklich gerne gehabt , daß die sich länger unterhalten hätten, weil ich das wirklich gerne hören würde weil da sicher Konflikte ausgetragen werden, die ich gar nicht austragen könnte, weil ich sie gar nicht hätte. Aber ich kann mich mit Maxim Biller unterhalten ne Weile. Und ich kann mich mit Stephan Gehne sehr gut unterhalten. Und gerade die Rigurousität, die Stephan Gehne vertritt hätte ich da gerne länger noch sich mit Maxim Biller auseinandersetzen lassen. Und von Maxim Biller weiß ich, daß er gerne provoziert und das wäre sicher schön gewesen. Also das ist noch das typische Lokalkolorit, das da noch dazu kommt. Und so entsteht daraus ein Artikel.
Münchner Sozialcharakter
FRAGE: Wo doch der Biller eher fast schon für so einen bestimmten Münchner Sozialcharakter steht, von seinem Auftreten, seiner Entschiedenheit und seiner bestimmten Haltung her.
DIEDERICHSEN: Ich kenn ihn nicht so genau. Ich kenn halt nur seine Texte und ihn relativ flüchtig. Jemand anders, auch aus München, hat mich auch schon mal darauf hin angesprochen. Der hat dann gesagt, er könne eben auch beide verstehen, weil er eben beide Positionen, die auch beide typisch münchnerisch wären, schon durchgemacht hätte. Nämlich die, das sozusagen mitzumachen und zu übertreiben oder was auch immer, und die, davon angewidert zu sein.
FRAGE: Ich fand ja dieses Biller Buch gut, wenn ich es beispielsweise mit Konkret Artikeln verglichen hab.
DIEDERICHSEN: Welche Konkret-Artikel denn? Du meinst Tempo Artikel
FRAGE: Ja, ich meine die Rolle, die zum Beispiel Semitismus in den Erzählungen spielt, wie er das nutzt, und wie das in der Diskussion verwertet wird.
DIEDERICHSEN: Ich habe das Buch zwar nur flüchtig überflogen, aber das ist schnurrig, pfiffig erzählt.
Deutsche Literatur
FRAGE: Wir haben diesen einen Text von dir, "Drei Dramen vom Grill" von Kiepenheuer & Witsch bekommen. Ich dachte zuerst, daß es so eine Resteverwertung wäre. So ein typischer 80erJahreBerlinDissen-Text und hab mich dann also gefragt, warum du die Form - also reale Personen im Drama auftreten zu lassen - jetzt noch benutzt hast. Ich weiß ja nicht in welchem Zusammenhang das Buch steht.
DIEDERICHSEN: Ja also die Form mit den realen Personen hat nichts mit "noch" zu tun, denn die hab ich ja so noch nie verwendet. Reale Personen in einem Drama, was sich als Drama ausgibt aber kein Drama ist, als Kalauer anzubringen. Da ist dann die Dramenform auch zitiert worden. Ist auch im Grunde nur insoweit eingehalten, als Akte und Szenen vorkommen und am Anfang Dramatis Personae.
Und was den Eindruck betrifft, es handelt sich um Resteverwertung - das ist schon richtig. Es ist Resteverwertung. Bloß nicht aus den 80er Jahren, sondern von Anfang 1990 ist der Text, geht auch zurück auf Eindrücke von Februar/März 1990 und entspricht auch dem was die Stadt betrifft. Ich bin vollkommen einverstanden mit dem Text. Nur. Er trifft nicht mehr auf die Zustände vom Herbst 91 in Berlin zu. Das auf jeden Fall.
Epochenwandel - Was für´n Körperteil war Berlin?
FRAGE: Steht das eigentlich in Zusammenhang zu den Kiepenheuer & Witsch Epochenbänden "Wie reagieren junge deutsche Autoren auf die Wende"?
DIEDERICHSEN: Da gab es ein Rundschreiben. Aber ich weiß nicht, ob ich darauf reagiert habe. Nein. Der Text war vorher schon fertig. Der war für einen ganz anderen Anlaß geschrieben. Und wie gesagt, ich hab mich auch bemüht, als ich dann aus Recherchegründen nach Berlin gefahren bin, einen anderen Eindruck zu gewinnen. Ich denke auch, da ist auch ein grundsätzlich anderer Punkt drin, im Vergleich zum Berlin-dissen der mittleren 80er.
Es gibt ja lustigerweise drei oder vier Haltlungen zu Berlin, die kursierten, die ich kenne und mitgemacht habe.
In den frühen 80ern keineswegs ein Dissen. In den frühen 80ern hat man ja Berlin teilweise - zumindest was bestimmte Aspekte der Nischenentwicklung anbetraf - durchaus auch begrüßt. Also Aspekte von Häuserkampf oder in der Musikentwicklung.
Dann gab es die sichtbare Institutionalisierung des Ganzen. Und genau dieser Aspekt Berlins wurde zum Exportschlager und Tourismusmagnet bis in die Berlinwerbung hinein.
Und dann die dritte Position, die ich versuchte, mir da zu erarbeiten, ist ja eine, die anläßlich der Wiedervereinigung versucht etwas herauszuarbeiten, was an Berlin konstant ist, was über diese Westberliner Kulturepoche hinausgeht. Und sozusagen so etwas wie das Preußische erstmal wahrzunehmen. Und das war vorher nie ein Thema.
Vorher wurde Berlin immer gesehen unter dem Aspekt: was macht hier sozusagen die Rest-BRD, wie schafft sie sich da ein Ventil, Wurmfortsatz - was auch immer? Auch wenn man den Staat als Körpermetapher sieht: Was für ein Körperteil war Berlin?
Und das ist in dem Text nicht der Fall. Darum geht es ja nur einmal kurz in einem Rückblick. Aber ansonsten geht es ja darum, was entdecke ich jetzt an preußischen Konstanten in beiden Teilen.
FRAGE: Du meinst Berlin als das bedeutungslose Feld, das dir schon vor Jahren auf Immendorf-Bildern vom Brandenburger-Tor gefallen hat?
DIEDERICHSEN: Ja. Aber von 1991 aus. Da ich in letzter Zeit wieder so oft da war und wahrscheinlich wieder was drüber machen werde, würde ich jetzt noch eine vierte Position einführen wollen: Also die Unfähigkeit Berlins sich zu repräsentieren, die mir als Konstante in dem Text auffällt, sozusagen eine Einladung darstellt. Und daß da tatsächlich ein Wandel im Gange ist, der sich nicht reduzieren läßt auf Wiedergeburt von irgendeinem Alten. Sondern ein wirklicher Wandel, der auch nichts zu tun hat mit "Jetzt-kommt-der-Osten-da-rein", sondern in jedem Sinne des Wortes jede Menge Räume offen stehen und der Nutzung harren.
Wobei ich jedoch keineswegs besonders optimistisch bin darüber. Auf jeden Fall kann man das mal konstatieren, daß da mal was anderes gewachsen ist.
FRAGE: Interessiert dich das weiter? Auch nach dem eben erwähnten Text?
DIEDERICHSEN: Ja sicher. Das ist das, was ich jetzt sage. Der Text ist ja alt. Der ist ja von 1990, wie gesagt. Und ich habe ihn überarbeitet ohne in Berlin gewesen zu sein 1991. Dann abgegeben. Und bin jetzt im letzten halben Jahr ziemlich oft da gewesen. Wobei ich jedoch froh bin, den so geschrieben zu haben. Um das mal dokumeniert zu haben.
Wichtig ist noch eine Sache, In dem Berlin-Text ist ein Fehler drin, den ich noch korrigieren muß, nachdem ich das in dem Text nicht mehr geschafft habe. Es ist natürlich nicht so, daß Oswald Wiener die "Paris Bar" begründet hat, sondern das "Exil".
FRAGE: Kannst du Dir vorstellen auch einmal anders über Berlin zu schreiben?
DIEDERICHSEN: Ja, hab ich ja schon gesagt.
FRAGE: Du hast es revidiert. Aber könntest du dir vorstellen, diese Zeichenanalyse der Stadt, die sich selbst nicht repräsentieren kann, noch weiter zu verfeinern?
DIEDERICHSEN: Ich kann dir eines erzählen: Als ich das letzte Mal in die "Paris Bar" kam, saß da nicht Syberberg, sondern Cecil Taylor. Vielleicht ist die Frage damit beantwortet.
FRAGE: Gut. - War das jetzt eine Anekdote?
DIEDERICHSEN: Das ist die Wahrheit. Aber das andere war ja auch die Wahrheit. Insofern wird das schon was zu bedeuten haben.
FRAGE: Es könnte ja auch eine trügerische Wahrheit sein. Da sitzt Cecil Taylor nun in Berlin in der Paris Bar und nicht der Syberberg, aber abseits dieser Idylle meldet sich politische oder soziale Praxis auf eine Art und Weise... -
DIEDERICHSEN: Ach, daß ich darüber mal schreiben könnte. Jetzt verstehe ich. - Ich glaube nicht, daß ich davon wegkommen werde, wegkommen kann, solche Sachen anhand ihrer kulturellen Symptome zu sehen. Ich glaube nicht, daß ich mit einer Art der Recherche oder Wahrnehmung beginnen könnte, wie sie ein Sozialjournalist hat. Es werden weiterhin Erfindungen und kulturelle Symptome sein, aufgrund derer ich zu Ergebnissen komme. Zu anderen Ergebnissen in jeder Hinsicht - und damit auch über Deutschland.
FRAGE: Vor dem Hintergrund, daß kulturelle Symptome gemacht werden und auf Subjekte und ihre Produkte zurückführen, könnte man dir erst mal den schlichten Vorwurf machen, daß du mit dem Text dem Berliner Senat Vorschub leistest in seinem Bestreben aus der Stadt mal eine Metropole zu machen.
DIEDERICHSEN: Du meinst: Wenn man fehlende Repräsentation vorwirft, sagt man "Schafft Repräsentation!".
FRAGE: Nein. Ich meine, auch wenn es eine noch so pittoreske Peripherie ist, man hängt doch auch dort an dieser Bewegung hin zur Nation, die sagt: "Um Deutschland sollten wir uns kümmern".
DIEDERICHSEN: Ich habe ja gesagt, wo der Versuch nur hinführen kann, da aus dem Vorhandenen das Nationale abzuleiten. Ich habe mich nicht mit dem Problem beschäftigt, was richtig wäre. Das ist halt ein deskriptiv-lakonischer Text.
Um diese Aufgabe (was richtig wäre) hat er sich gar nicht gekümmert. Das fand eher in diesem - Weihnachtsbeilagen-Text hätte ich fast gesagt, in "Todesblei" statt, der vom selben Thema handelt und auf die selbe Berlinreise zurückgeht. Da steht das schon drin, die nationale Frage.
Im Übrigen: Ich komme gerade aus der Buchhandlung und hab mir gerade den neuen Pfahl (?) von Matthes & Seitz gekauft - also das geht da weiter, glaube ich.
MYTHEN/GIRLISM
FRAGE: Was mich da noch interessieren würde: Als Gegensatz zum Jounalismus Mythen schaffen, wie das Marcus Greil sagt. Das habe ich in dem Girlism-Kontext und dem Doors-Artikel wiedergefunden. Viele Mädchen, denen ich diese Girlism-ding geschickt/gegeben habe, waren empört, daß da so eine geschlossene Identität geschaffen wird.
DIEDERICHSEN: Das ist auch ein Problem. Hier ist das relativ freundlich aufgenommen worden, weil da natürlich auch eine gewisse Ironie drin war - das politische Subjekt "Girl". Das ist ja ein Euphemismus. Aber das spielt sich ja insofern auf einer mythologischen Ebene ab, als daß die ganzen Bands und Einzelfiguren, die da zusammengestellt werden, so einen Mythos ergeben. Aber die Idee dabei, glaube ich, ist nicht die, andere oder bessere Mythen zu schreiben, sondern einen schiefen, aber irgendwie plausiblen und Begriffe bildenden Blickwinkel an Musik zu legen, der nicht nur eine Band ist, oder ein Trend, sondern etwas Übergreifendes.
Bei den Doors weiß ich nicht, was du meinst. Das war ja eher persönliche Geschichte. Aber bei "Girlism" stimmt das schon. Im Übrigen habe ich das nicht allein geschrieben. Das war eine Gemeinschaftsarbeit, da haben sechs, sieben Leute daran herumgeschrieben.
FRAGE: Ich meine den Einleitungstext.
DIEDERICHSEN: Auch der ist nicht allein von mir. Auch da haben verschiedene Leute daran gearbeitet. Der Einleitungstext stammte von mir und Hans in erster Linie, von mir, Hans und Jutta. Und die Einzelbeiträge stammen von, ja eingentlich von allen.
FRAGE: Die Kritik daran war, daß das ein Mythos von der Naturkraft "Mädchen" wäre
DIEDERICHSEN: Das haben wir auch als Leserbrief bekommen. Da haben wir auch darauf geantwortet: Daß wir gerade das nicht meinen. Deswegen haben wir auch nicht "Mädchen", "Frau" etc. gesagt, sondern "Girl" als kulturelles Konstrukt. Und daß das "Say No To Scheißleben!" sich nicht auf eine primitive, Kaspar-Hauserhaftige, natürliche, Rousseau-artige Richtigkeit bezog, sondern gerade aus der Konstruktion einer Rolle, die man sich selbst gemacht hat.
DEUTSCHE IDEOLOGIE REVISITED - MATTHES & SEITZ
( z.T. unverständliche Fragen zu Tokyo Schwanstein im Kölner Rose Club...
– DD: „Wieso fragst Du? Hast Du da mitgespielt?“
– FRAGE: Nie! Ich schwör! u.s.w. im Allgemeinen und Speziellen)
FRAGE: Was in dem Zusammenhang wichtig ist/wichtig sein könnte, ist, daß er (Diener) von Matthes & Seitz begeistert ist. Daß er glaubt, in diesem Becken seine Verrücktheit umsetzen zu können. Nicht als bewußter Vorgang natürlich. Aber das ist natürlich so eine Art Sammlungsbewegung.
FRAGE: "59 to 1" war ja immer schon so Matthes & Seitz-Kultur, wurde viel verarbeitet und übertragen auf einen bestimmten Kontext.
DIEDERICHSEN: Das war ja auch zu einem Zeitpunkt, zu dem noch vieles nicht richtig klar war da. Mir ist auch heute noch vieles nicht klar daran. - Es ist ja nicht einfach nur ein neo-rechter Verlag oder so.
FRAGE: Der Manuel (damals Freund/Bekannter von P. Kessen) hatte ja für seine Zeitschrift so ein Streitgespräch vorgesehen zwischen Diederichsen und Matthes & Seitz –
DIEDERICHSEN: Um Gottes Willen!
FRAGE: Der Matthes & Seitz hat dann gesagt, er hätte dich häufiger angeschrieben, aber es wäre nichts zurückgekommen. Der war dann vollkommen eingeschnappt.
DIEDERICHSEN: Er hat mich einmal angeschrieben und ich hab zurück geschrieben. Dann hat er mir ein zweites Mal geschrieben und da hab ich nicht mehr zurück geschrieben. Der Brief war so unmöglich. - Aber ohne Zweifel ein interessanter Charakter, der Typ.
SOUNDGARDEN
FRAGE: Ich hab noch so eine Leserfrage. Du bist in letzter Zeit so auf die Besprechung dieser Soundgarden- Mother Love Bone- Pearl Jam-Stilschule abonniert. Mißt Du dem einen hohen Bedeutungsgrad zu als neue Rockschule oder sind das eher sentimentale Gefühle eines Led Zep-Fans?
DIEDERICHSEN: Nein. Ich denke, daß das sehr korrekt ist in seiner Melancholie. Daß die aber auch sehr angebracht ist. Das ist auch eine Melancholie, die davon handelt, daß es keine Schule mehr werden kann. Das ist eben so End-End-Rock. Und als solches eben irgendwie o.k., aber eben auch nicht mehr.
Ich glaube nicht, daß das fruchtbar ist, daß da was daraus hervorgehen wird. Ich habe die neue Soundgarden jetzt im nächsten Heft zusammen mit der neuen Meat Puppets besprochen, die ich sehr viel besser finde. Viel zukunftsweisender. Das ist zum ersten Mal wieder eine Platte, bei der eine Ami-Underground-Band die Tatsache, daß sie bei der Industrie ist, nicht dazu benutzt, jetzt eine Formel zu finden zwischen den Stühlen. Sondern komprimiert. Das, was sie selber immer gemacht hat, radikalisiert. Nämlich Guitarpicking, Country-, Bluegrass-bezogenes Gitarrenspiel, auf der anderen Seite so eine gewisse Metal-Schwere - beides in einer Spielweise zusammen. Und das finde ich viel interessanter als Soundgarden, die jetzt noch so eine Platte gemacht haben. Wobei ich Mother Love Bone von den dreien noch am besten finde ...
Ich finde die Soundgarden eigentlich die schlechteste von den dreien, den drei Soundgarden-Platten. Und die Meat Puppets richtig gut. Eigentlich das, was man von fIREHOSE hätte erwarten können.
ZUKUNFT - POP/-DISKURS
FRAGE: Schließen wir mit ein paar zukunftsweisenden Fragen ab: Könntest du dir vorstellen, daß eine so emphatische Besprechung von Musik/Pop wie Anfang der 80er noch einmal vorstellbar ist? Oder glaubst du, daß das ganze Projekt Rock'n'Roll/Pop als solches so auseinandergedrifftet ist, daß es nicht mehr zusammenlaufen kann?
DIEDERICHSEN: Was man, glaube ich, machen könnte, wäre eine extreme Hickhack-Diskutiererei. Man könnte nicht zurück zur Emphase kommen, aber zurück zum emphatischen Hickhack. Darüber, was erlaubt ist, was nicht erlaubt, was in welche Richtung geht - Begriffsbestimmungen und so was. Da könnte es jedenfalls zu Erregungen kommen.
FRAGE: Also nur auf der rein diskursiven Ebene?
DIEDERICHSEN: Davon sprechen wir doch aber auch, oder? Du sprichst ja auch vom Schreiben über Musik, nicht von der Musik oder von der Reaktion auf Musik auf der Tanzfläche oder im Konzertsaal.
FRAGE: Das war für mich das 82er Ding. Daß beides nicht voneinander zu lösen war.
DIEDERICHSEN: Das, so ein Vor-Erregtsein, setzt so ein Hickhack auch voraus. Aber ich denke, daß so was -
FRAGE: Wird sich der Diskurs noch für die Töne interessieren, für die herkömmlichen Geräte? Schlagzeug, Mikrophone, Stimmen?
DIEDERICHSEN: Was die Herkömmlichkeit betrifft, läßt sich sicher die eine oder andere Ablösung absehen. Ich messe dem im Augenblick nicht so eine wahnsinnige Bedeutung zu. Die grundsätzlichen Probleme sind klar und das wird noch eine Weile so gehen.
Was aber wichtig ist für so eine Zeitschrift wie Spex: Entweder, zu sehen, was das alles bedeuten könnte, wie komplex das alles ist und das alles auszutragen. Oder - was auch ehrenwert wäre - nur noch dazu beizutragen, daß die Hintergründe klar werden, daß man's verstehen kann. Oder daß man's auf irgendwas beziehen kann.
Die 82er-Schreibweise war ja offensiv produktorientiert. Da ging es ja darum, "mir doch scheißegal, was das für Typen sind oder: mir doch egal, unter welchen Verhältnissen das zustande gekommen ist. Entscheidend ist, was ich für mein Leben damit heute Nachmittag mache". Das ist - soweit ich das sehen kann - nicht mehr möglich. Obwohl: Man weiß ja nie.
1982
FRAGE: Aus heutiger Sicht, historisch betrachtet erscheint ja 82 als Geburtsdatum einer seltsamen Symbiose: Die künstlerische Produktion hätte ohne den Diskurs nicht stattfinden können. Die Musiken hätten ohne den ihnen zugeschriebenen diskursiven Gebrauchswert nicht funktioniert.
DIEDERICHSEN: Aber die Musik entwickelte sich ja an allen Ecken und Enden plötzlich in eine bestimmte Richtung. So verschiedene Sachen wie Kevin Rowland und Green Gartside, die ja eigentlich nichts miteinander zu tun hatten, konnten sich plötzlich auf Soul einigen. Das war dann plötzlich die Klammer für fast alles. Einerseits Kevin Rowland mit seinem Naturburschentum, und dann Green Gartside mit seiner ästhetischen Intellektuellen-Position. Plötzlich konnten alle sagen "Aretha Franklin!" oder "Geno Washington!" oder was auch immer. Und das hallte ja überall wieder. Das war ja überall die Befreiung von der Rock-mäßigen Abneigung gegen das Inszenierte.
FRAGE: Ich wollte auf was anderes hinaus: Gab es nicht so etwas wie eine stillschweigende Apperzeption bei den Musikproduzenten. Und zwar eine Apperzeption, die immer auf Literatur fixiert war, weil sie damit gerechnet hat, damit rechnen mußte daß so etwas aufbricht wie ein Diskurs, anstelle oder als Zugabe meinetwegen für Tänze, oder anderen Bewegungen im Rahmen der sozialen Praxis. Weil das damals die einzige Existenzmöglichkeit war. Auch ökonomisch.
DIEDERICHSEN: Bin ich nicht sicher, denn andererseits gehörte eben auch dieses ... - so etwas wie Kid P. eben in der Schreibweise und in der Selbsterklärung der Musik und in den musikalischen Bezügen - dieses Betonen von Euphorie und euphorisiert-sein und auf-Wolke-9-schweben et cetera. Also einerseits: Klar, wenn dann irgendeiner kam und versuchte, das zu erklären, sagte er "Die Inszeniertheit ist nicht mehr falsch, wir müssen die Inszeniertheit neu betrachten, das ist gerade gut usw.". Aber auf der anderen Seite waren die Discos voll von Leuten, die diesen Gedanken bestimmt nicht hatten, sondern zum ersten Mal in ihrem Leben Soulmusik hörten. Auch wenn das gar keine Soulmusik im eigentlichen Sinne war.
FRAGE: Hm.
FRAGE: Dieses Selbst-verantwortlich-fühlen-für-die-Entwicklung, was aus diesen Gedanken geworden ist: Ist das nicht auch ein Zwangsgedanke?
DIEDERICHSEN: Wenn man zum ersten Mal erlebt, daß Sachen nicht richtig ankommen, ist das ein erschütternder Vorgang. Dann aber, irgendwann gewöhnt man sich daran. Irgendwann weiß auch jeder: Es kommt halt immer nur soviel an. Innerlich kann man dann immer noch rechnen: Soundsoviel Komplexität läßt noch Klarheit zu, ab soundsoviel Komplexität ist Klarheit nicht mehr möglich, jedenfalls nicht für mich und unter diesen Zeitumständen oder so. Da gibt es dann immer wieder Kurskorrekturen, hin zur Klarheit oder hin zur Scheißegal-Klarheit wie: ich-laß-es-mal-wieder-wuchern!. Diese beiden Optionen sind natürlich immer gegeben. Aber so große Enttäuschungen darüber, daß irgendwas nicht richtig angekommen ist, habe ich heute nicht mehr.
Consolidated (kann sein, dass die folgende Passage in einen anderen Zusammenhang gehört, aber mir reichts, das Band transkribiert und die Originalunterhaltung so original wie möglich und unterhaltsam wie nötig lesbar gemacht zu haben, mir die 50 Seiten jetzt – 21 Jahre später – noch einmal auf totale publizistische correctness hin durchzulesen finde ich momentan einfach zu viel verlangt; wer die ursprüngliche Stelle im Gesprächsverlauf findet, darf mir natürlich eine E-mail schicken und/oder sich über meinen Fehler bei der redaktionellen Bearbeitung beschweren und erhält dafür postwendend einen Gutschein für ein Gratis-Bussi von mir und dazu einen großen Fliegenficker-Orden am Bande, natürlich auch und genau so umsonst aka unentgeltlich wie die stundenlange Arbeit, die mich die Frager-, Hörer- und Tipperei dieses Interviews seinerzeit bis jetzt gekostet hat)
FRAGE: Wär in dem Zusammenhang Consolidated eine Band die die Forderungen verwirklichen würde?
DIEDERICHSEN: Nein, Consolidated tun in diesem Zusammenhang nichts anderes als was jede straight edge hardcore Band getan hat. Consolidated ist inhaltlich nichts anderes als jede autonome Gruppe in Berlin. Denkt sich noch, hat noch so eine moralistische, rein moralistische, fast unpolitische, politische Haltung. Das ist gegen Fleischfressen, Sexismus, Rassismus und gegen Faschismus. Ohne eine positive Bestimmung. Und das, was eigentlich jedem moralisch klar ist, wird halt ausgebeutet. Das meine ich auch nicht als Vorwurf, das "ausgebeutet". Das benutzt, wo bei bestimmten Leuten eh Einigkeit darüber ist, ohne daß es auf eine weitere Stufe gebracht wird.
Gut, musikalisch ist es anders als Fugazi. Ich bin auch gar nicht so sicher, ob das jetzt ein Fortschritt ist. Denn das ist auch nur eine Approbation von irgendwelchen Mitteln, die schon zu Recht irgendwo sind. Das ist irgendwie ehrenwert, aber ich würde sagen, die Beatnicks waren da schon was weiter.
Die haben ja die Benutzung ihrer Mittel mehr reflektiert als Consolidated, weil sie auch eine weiße Band sind. Das hat damit vielleicht zu tun, ohne da Determinismen aussprechen zu wollen. Aber bei den Beatnicks hat natürlich eine Rolle gespielt, daß sie aus der Hip Hop Kukltur kamen, andererseits natürlich die typische Universitäts-Akademiker-Campus Mentalität mitbrachten.
FRAGE: Vielleicht könnte man an Consolidated auch den Unterschied an guter und schlechter Mikropolitik festmachen. Zum Beispiel dieser eine Text, bei dem die Verbindung zwischen Fleischessen und Machismo gezogen wird.
Das erinnert mich an Argumentationsweisen von diesem Pilgrim zum Beispiel, der in Deutschland ja ähnliches gemacht hat: Wenn man Fleisch ißt, ißt man Todesenzyme, das setzt sich dann wieder in sozialem Verhalten fort.
DIEDERICHSEN: Ziemliche Mystik, würd ich auch sagen. Ich will nicht von guter und schlechter Mikropolitik sprechen, sondern ich denke einfach, Consolidated, das ist nicht unbedingt falsch. Selbst wenn das hier inhaltlich falsch ist. Das ist bloß nichts Neues. Da wird kein Neuland betreten.
Und natürlich bei allen diesen Sachen, wie auch schon bei straight edge, gibt es natürlich eine Gefahr, nämlich dieses Urteilen über Andere aufgrund einer sich nicht weiter hinterfragenden moralischen Subjektivität: Als Grundlage von allem steht mein Rechts - und Unrechtsempfinden und ich gehe da auch nicht weiter.
Weil ja das Argument, das dann kommt ist: Wir haben auch keine Zeit dafür, die Verbrechen haben ein Ausmaß erreicht, wo wir gar nicht mehr rechtfertigen können, warum wir sie für Verbrechen halten. Und das ist ja für vieles was angeführt wird richtig. Bloß wird es -weil man ja immer bei sich selbst anfangen will mit dem Abschaffen des Bösen und im Kleinen Kreis, das ist ja das einzig wirksame - dann zu einer Rigidität, die ja alles andere als Verschiedenheiten etc ist.
FRAGE: Könntest du eine Band nennen, die eine positive Form von Tribalismus und Mikropolitik umsetzen würde, wenn Consolidated eher das Traditionelle ist? Oder gibts das nicht in der Musik?
DIEDERICHSEN: Eine band kann ja kein Tribe sein. Die kann nur zu einem gehören. Und auf der anderen Seite: Tribalismus ist ja auch ein haariger Begriff. Ich würde nicht hingehen und sagen, die alten Bewegungen sind tot, jetzt kommt der Tribalismus. Denn Tribalismus machen auch Skins. Das sind auch Tribalisten. Und da gehört noch was, ein Ferment dazu, bevor man den sich auf seine Fahnen schreiben kann. Ich bin auch nicht einverstanden damit, was teilweise in SPEX geschieht, durch die Gegend zu ziehen und überall einen Tribe zu entdecken, hier nen Tribe, da nen Tribe. Nur weil es ein Tribe ist, ist es gut. Denn das ist zwar die einzige Möglichkeit - Tribalismen - bloß reicht das noch nicht. Und jetzt zur Frage: Eine Band die das richtig macht? Nein. "Richtig" würde ich da nicht verhängen wollen.
ZUKUNFT
FRAGE: Die Sache, an der du gerade arbeitest. Ein Buchprojekt?
DIEDERICHSEN: Ich will mich da nicht festlegen. Ich weiß wirklich nicht, was daraus wird. Ich bin froh, daß ich halbwegs ein bißchen mehr Freiheit habe, zeitliche und sonstige, um etwas schweifender an Sachen heranzugehen. Wie sich das irgendwann wieder materialisieren wird, will ich offenlassen. Sonst wird das wieder so ein Abgabetermin-ist-15.-Mai - Ding oder so.
SPORTSCHAU
DIEDERICHSEN: Wie spät ist es überhaupt? Gleich sechs, oder was?
FRAGE: Halb sechs, ja.
DIEDERICHSEN: Halb sechs - dann kann man gleich nach den Nachrichten die Bundesligaergebnisse hören. Moment. - Vielleicht schaffen wir es noch.
FRAGE: Gibt's hier irgendwo ne Kneipe, wo man auch Sportschau schauen kann oder (unverständliches Gegrummel)?
DIEDERICHSEN: Ja, warte mal. Das kann man vielleicht irgendwie regeln. (Grummel. Grummel...)
ENDE
(alle Beteiligten ab in eine Kölner Bierwirtschaft mit TV-Empfang in kurzer Fußwegnähe der Büroräume der damaligen Spex-Redaktion in der Aachener Straße)
Copyright THE GREAT GATE
Urheber, Inhaber aller (Verwertungs-)Rechte inkl. Leistungsschutz des Interview-Textes bei: Diedrich Diederichsen, Peter Kessen, Andreas Otteneder, Martin Posset, in Stellvertretung wahrgenommen durch THE GREAT GATE, Adresse siehe Impressum
Junge deutsche Autoren
FRAGE: Anfang bis Mitte der 80er scheint es eine eine enge Verbindung zwischen Musik und der zeitgenössischen Literatur, hauptsächlich junger deutscher Autoren gegeben zu haben. Ob das jetzt, ganz simpel zum Beispiel bei Glaser, der also eine neue Art von Literatur schaffen wollte, über das Sujet ging: neue Wirklichkeiten - oder unmittelbar über Personen, wie dem Meinecke oder in den Texten von Rainald Goetz. Diese Verbindung scheint unterbrochen und überhaupt kein Thema mehr zu sein. Kann man das so sagen und wo können die Gründe dafür liegen?
DIEDERICHSEN: Tja, das weiß ich nicht. Also, ich weiß nicht, ob diese Verbindung unterbrochen ist. Und vielleicht war sie nie besonders stark. Eine ziemlich platte Erklärung ist natürlich die, daß die Leute in einem bestimmten Alter einfach durch die Art, wie man hierzulande aufwächst, auch wenn sie kein besonderes Interesse haben, einfach mehr über Musik wissen und auch das was so läuft einigermaßen besser einschätzen können als dann, wenn sie sich spezialisieren als Schriftsteller, oder wie auch immer.
Und zur allgemeinen Lebenswelt gehörte dann auch das ein oder andere musikalische Zitat, der ein oder andere Bandname. Das taucht dann in irgendwelchen Texten auf. Das war aber nur ein Altersverständnis. In dem Maße, in dem sich die Musik immer weiter entwickelt, differenziert hat, haben sich diese entsprechenden Autoren nicht mehr so ohne weiteres getraut, dieses oder jenes Zitat, diesen oder jenen Bandnamen ohne weiteres zu erwähnen, weil sie nicht mehr wußten, was der ohne weiteres bedeutet im gegenwärtigen Kontext.
Wenn du jetzt bestimmte Autoren nennst, Meinecke etc., würde ich meinen, das hat auch viel damit zu tun, daß mittlerweile die Produktionszyklen größer geworden sind. In den frühen 80ern erschienen Lebenszeichen von nicht journalistisch arbeitenden Autoren in kleineren Abständen, so daß auch die Verbindung zwischen Musik und Literatur klarer war. Soweit ich beispielsweise über Meinecke informiert bin, ist der nun weiterhin mit beidem beschäftigt. Der hat wohl zuletzt bei Kiepenheuer dieses "Holz" gemacht und dann wieder eine Platte. Und ich weiß nicht, ob dann wieder ein Buch kommt und wieder eine Platte, wie da bei ihm die Rythmen sind.
Hinzu kommt natürlich auch noch, daß es in den frühen 80ern eine deutsche Musik gab, die sehr literarisch war. Weswegen man so was besser relaten konnte als heute. Das zeichnet sich aber auch wieder ab. Ich meine diese ganzen neuen Hamburger Bands von Kollossale Jugend bis Blumfeld, diese ganze L`arge d`ores Ecke. Das ist ja auch nicht nur implizit. Das bezieht sich ja auch stark auf alle möglichen Texte, die die gelesen haben. Und Diestelmeyer ist ein ausgesprochen - ich möchte mal sagen - poetisch denkender Mann.
FRAGE: Welche Autoren sind für dich heute noch interessant?
DIEDERICHSEN: Von der ganzen Bewegung die Rawums gemacht hat?
FRAGE: Nicht nur Rawums, sondern auf die ganze 80er Jahre bezogen?
DIEDERICHSEN: Ja abgesehen davon, daß der Rang von Rainald Goetz unangetastet geblieben ist, unangetastet bleibt die Jahre hindurch, habe ich dazu eigentlich nicht viel zu sagen. Das ist nie so mein Interessengebiet gewesen. Eigentlich nie - junge deutsche Literatur. Ich habe eigentlich immer ausländische, alte Non-Fiction gelesen. Oder ausländische neue Non-Fiction. Die auch.
FRAGE: Du hast mit Blick auf die Hamburger Szene gerade Bewegung gesagt. Siehst du jetzt in diesen poetischen, sprachlich orientierten Bands eine neue Generation kommen, mit der es wieder einen Schulterschluß von Literatur und Musik gibt?
DIEDERICHSEN: Wobei es bis jetzt nur innerhalb der Musik stattfindet. Ob das eine Bewegung oder ein Schulterschluß ist, weiß ich nicht. Aber es ist zumindest ein Kreis, der sich in vier, fünf Bands organisiert und ein Label hat. Wohl auch ein bißchen ausstrahlt anderswohin. Und insofern: Ja.
In Hamburg merkt man das immer sehr deutlich. Da ist das dann richtig im Gespräch. Hier (in Köln) kommt das immer nur an, wenn die mal auf Tour sind. Oder wenn man wieder einen trifft. Oder wenn die Popkom ist oder so.
Was in den frühen 80ern war, war in dem Sinn natürlich auch keine Bewegung. Denn diese ganzen Autoren, die in Rawums und Azus, wie diese diese Sampler alle heißen, veröffentlicht haben, waren ja auch - anders als die musikalische Szene, die schon bevor sie irgendwas veröffentlichte, über Fanzines einen Austausch hatte, oder sonstwie kommunizierte - untereinander überhaupt nicht verbunden. Die sind ja auch erst dadurch miteinander in Kontakt getreten, daß es diese Bücher gab. Und die wurden natürlich andererseits von Hubert Winkels, Helge Malchow und anderen Aktivisten zusammengestellt. Aufgrund der Beobachtung von diversen Einzelfiguren. Eine Gruppe war das ja nie.
FRAGE: Das Schreiben von Rainald Goetz hat sich stark verändert. Habt ihr Schwierigkeiten seine neuen Texte wie "Soziale Praxis" noch ins Heft zu nehmen? Womöglich sträuben sich da viele SPEX-Leser.
DIEDERICHSEN Darüber haben wir uns in seinem Fall nie Gedanken gemacht. Also er hat bei uns gewissermaßen ein carte blanche.
Also schon klar, die Leser reagieren anders auf die schwieriger gewordenen Sachen. Aber für uns wäre das nie ein Kriterium gewesen. Es ist auch sonst nur mit Einschränkungen ein Kriterium. Sonst könnte man ja sozusagen eine ganz andere Zeitschrift machen.
Es war halt so: In einigen Sachen, die er in den frühen 80ern bei uns gemacht hat, kamen erkennbare, für jeden Spex-Leser erkennbare Bezugspunkte vor. Es gibt diesen Text - wie ich finde einen der besten von Goetz - über Hanoi Rocks, wo einfach Hanoi Rocks alles mögliche sagen, das durch den Text gerechtfertigt, hergestellt oder montiert wird. Was aber eben Hanoi Rocks sagen. Und so kommt dann ein Zusammenhang her. Der ist bei "Soziale Praxis" schwerer zu erkennen für den Spex Leser. Deswegen hat sich das Echo da etwas gewandelt. Außerdem kommt dazu, daß eine Menge junge Leute als Leser nachgewachsen sind, die ihn nicht kennen und auch diese Geschichte nicht kennen. Aber, wie gesagt: Für uns wäre das nie ein Grund, einen Text nicht zu veröffentlichen.
FRAGE: Jörg Schröder - das ist jetzt eine andere Geschichte - hat neulich über Goetz gesagt, er wäre nach seinem Debut "Irre" immer schlechter geworden. Er wäre aufs Feuilleton reingefallen, also auf einen bestimmten, dort gepflegten Geniekult.
DIEDERICHSEN: Also, das ist eine oberflächliche Wahrnehmung. Das ist die Wahrnehmung vom Feuilleton aus. Die Wahrnehmung, ohne die Texte zu lesen. Also, ich glaube das nicht. Ich will hier nicht Urteile fällen, aber ich glaube nicht, daß Schröder sich da genug auskennt.
Verbrechen - Konkret - Spex - politische Subjektivität
FRAGE: Was mir bei der letzten Spex auffiel ist, daß einerseits Marcel Beyer relativ groß gemacht wurde und dazu diese amerikanischen Autoren, halt Ellroy dringewesen sind. Diese britischen relativen Hardcore Thriller. Die waren ja auch in Konkret eine Doppelseite.
DIEDERICHSEN: Merkwürdiger Zufall, finde ich auch.
FRAGE: Läßt sich das erklären, einerseits dieses Interesse für Amerika, diese Art zu Schreiben und gleichzeitig für den Beyer, der ja was ganz anderes macht.
DIEDERICHSEN: Also, das Interesse für das amerikanische Schreiben, diese Art amerikanisches Schreiben ist ja nun alt, ist ja nun eine Konstante in Deutschland seit - ich würde sagen seit den späten Fünfzigern. Also seit Gründung der Zeitschrift Filmkritik. Ich glaube das war so der erste Punkt, wo amerikanische Massenkultur umgewertet wurde. Wo zwar noch Adorno-Texte in der Filmkritik veröffentlicht wurden in denen noch der alte Kulturindustrievorwurf erhoben worden ist, aber dann plötzlich der Western anders gesehen wurde. Und entsprechend Chandler und Hammet anders gelesen wurden. Seitdem ist das eine Konstante. Es verändern sich nur die Autoren. Also es nimmt immer zeitgenössischer auf, was in Amerika läuft.
In den 50ern wurde ja nachgeholt, was zehn Jahre vorher gelaufen ist. Und die Zeitspanne ist halt geringer geworden. Heute setzt man sich mit dem Ellroy auseinander, der zwei Jahre vorher erschienen ist.
Die Kluft, die man wahrnehmen könnte, zwischen Marcel Beyer und James Ellroy ist ja vielleicht auch nicht so groß wie man auf dem ersten Blick denkt, wenn man betrachtet - um es mal ganz platt zu sagen - was oder wie sich der Unterschied Ellroy-Chandler auf den Unterschied Beyer-Brinkmann bezieht, die ja auch gleichzeitig von einer vergleichbaren Szene rezipiert worden sind.
Dann sind es zweimal solche Entwicklungsspannen, die gar nicht so dramatisch sind. Das aber beides nebeneinander läuft ist, wie man so sagt, typische BRD-Realität.
Also, man hat hier seine eigene, immer aus einer mit sich selbst nicht übereinstimmenden Fremdheit kommende Kultur und eine andere, die so tut oder die von außen wirkt, als wäre sie mit sich selbst einig, mit sich selbst identisch. Und die bewundert man natürlich. Die braucht man im Grunde ja, um sein eigenes, nicht mit sich selbst identisch sein, überhaupt wahrnehmen und ausgestalten zu können.
Beispielsweise in einem Text, wie in einem Buch von Marcel Beyer.
FRAGE: Dazu fällt mir diese Heterotropie-Vorstellung ein, dieser Gedanke eines zunehmenden Auseinanderfallens der Schreibformen, was ja immer betont wird, zumindest in der Konkret-Literaturbesprechung: Daß es eine Art von Schreiben gibt, die realistisch ist, illusionslos und auf jeden Fall noch einen ganz klaren Referenten hat und auf der anderen Seite also der Beyer steht mit seiner Kunstprosa, fast schon als Gegensatz dazu. Die in den USA momentan zu bemerkende realistische Art des Schreibens scheint es hierzulande zur Zeit nicht zu geben. Die wird wohl eher erwartet oder gewünscht.
DIEDERICHSEN: Ja, ich würde sagen, es gibt ein Hingezogensein, wie es natürlich immer ein Hingezogensein zu gewißen Idyllen gibt. Und die Vorstellung, man schreibe realistisch, ist natürlich eine Idylle. Denn man schreibt ja nicht realistisch. Auch Ellroy schreibt nicht realistisch.
Um seine eigene nicht idyllische Situation gestalten zu können, muß man natürlich, wie ich eben sagte, eine Vorstellung von einer zeitgemäß konkurrenzfähigen Idylle haben. Also in diesem Spannungsfeld von den beiden Vorstellungen findet dann alles andere statt, findet dann auch daß Musikhören statt, hierzulande, denk ich mal.
Ich persönlich habe mich nie so zu dieser amerikanischen Schreibweise hingezogen gefühlt, ich habe so was nie gern gelesen. Ich habe - und zwar Betonung auf gelesen - andere Produkte gelesen, die aus dieser selben Idylle hervorgehen, von sozusagen fortgeschritteneren Medientechnologien umgesetzt werden. Die durch diese Umsetzung dann die Differenz enthalten, die im Literaturvergleich die literarischen Techniken Marcel Beyers wären. Die hat mich mehr zufriedengestellt, als eine direkte Beschäftigung damit.
Ich finde auch, daß die direkte - mit der Tendenz zur gläubigen, oder wie auch immer zu identifizierenden - Beschäftigung letztendlich in so ein Wim Wenders-Dilemma führt. Oder in die Peter Handke-Probleme. Die haben das ja auch, sozusagen in der selben Zeit, vergöttert. Aber dann wirklich geglaubt, sie könnten genauso arbeiten. Und wenn Wim Wenders heute Filme macht, glaubt er ja, er könne genauso naiv sprechen wie er meint, daß das amerikanische Kino naiv sprechen würde.
FRAGE: Warum habt ihr euch in SPEX dann entschlossen, American Psycho in den Katalog zu nehmen, das Buch also zu unterstützen?
DIEDERICHSEN: Es war so. Die Clara Drechsler, die hier auch sitzt, übersetzt das Buch oder hat es übersetzt. Mittlerweile ist sie damit fertig. Und während sie es übersetzte lagen hier immer so stapelweise die Druckfahnen herum und da hat jeder mal so hineingelesen. Und das fanden wir eigentlich sehr faszinierend. Und zu dem Zeitpunkt haben wir gedacht: Gut, also, bevor dieses Buch hier den zu erwartenden Reaktionen ausgeliefert ist, werden wir es mal vertreiben. Gut in unserem Text, in dem wir das bewerben, haben wir ja verschiedene, mögliche Kritiken schon eingeschlossen, die ich auch noch akzeptieren würde. Aber ich denke heute noch mehr als damals, als diese Entscheidung gefällt wurde, daß es ein ziemlich gutes Buch ist.
FRAGE: Also, "gut" in dem Sinne, wie Bret Easton Ellis in sein Vorwort geschrieben hat, mit Balzac?
DIEDERICHSEN: Das ist mir jetzt nicht präsent. Was steht denn da?
FRAGE: Er sagt dort, daß sich seine Darstellung von Gewalt dadurch rechtfertigt, weil die Leute halt durch die Umstände, dazu gebracht werden. Weil es sozusagen eine Umwelt gibt, die diese Gewalt produziert.
DIEDERICHSEN: Ach so. Das fände ich dann auch zu platt. Nein. So nicht. Ich denke, daß der Genuß beim Lesen ja nicht der Genuß der Gewaltdarstellungen ist. Daran hat ja niemand erstmal Genuß. Zumindest schließe ich das mal aus. Das gibts vielleicht auch, aber das ist nicht der Punkt.
Der Genuß am Lesen ist ja dieses Aufzählen von Produkten. Und von wie Produkten hergestellten Haltungen, Positionen, Gesprächsstoffen, etc. Eine nur durch Aufzählung und keine andere literarische Technik hinzukriegende Katalogisierung von einer auf höchstem Niveau geführten, extrem entfremdeten konsumistischen Existenz. Und das, was an dem Buch sozusagen der Punkt ist, ist daß diese Aufzählungen immer automatisch in eine ähnlich beschriebene Gewaltorgie führen. Das ist eine vollkommen korrekte Wahrnehmung. Genauso ist es. Und das kann man auch nicht anders darstellen. Das kann man nicht erklären. Kann man natürlich auch, aber nicht in so einem Rahmen. Man kann sagen - aber das wäre in der Tat abgeschmackt - das konsumistische Leben ist wie ein menschenfeindliches Zutodefoltern etc.
Das kann man nur so ineinanderübergehen lassen. Im Grunde genommen ohne Anfang und Ende. Ich finde, daß Buch hätte noch viel radikaler geschrieben sein können. Also er hätte sich noch ein bißchen Handlung sparen können. Und Figuren auch noch sparen können. Es hätten noch anonymere Begegnungen sein können. Also in der Richtung wär sogar noch was zu machen gewesen.
Es gibt auch noch andere Sachen, die ich daran auszusetzen hätte, daß in den Gewaltdarstellungen doch so eine Art Schrecken und doch eben auch Steigerungen drinn sind, die nicht mehr so kühl sind. So daß, da doch irgendwie so eine Anklage reinkommt, wo man sich dann vorstellen mußte, es gäbe da so ein Autorsubjekt, das hier irgendwas an die Wand wirft. Und ein Menetekel. Und da sollen wir dann was daraus etwas lernen. Aber im Prinzip denke ich, ist das Buch sehr interessant.
FRAGE: Ich möcht nochmal auf den Zufall zurück, daß in Konkret und SPEX zur selben Zeit Texte stehen, die im Zentrum den gleichen Gegenstand haben: Thriller, Gewalt, Verbrechen. Kann man annehmen, daß das bessere Feuilleton auf der einen Seite, ich sag mal salopp die SPEX-Welt und Politik auf der anderen Seite, für die jetzt mal Konkret stehen soll, daß also Welten, die sich eine Zeit lang nicht viel zu sagen hatten, jetzt über den Gegenstand Verbrechen Krimi, wieder zusammen gehen können.
DIEDERICHSEN: Ich glaube, man kann darüber reden. Aber ich glaube nicht, daß sich das aus dieser Koinzidenz ableiten läßt. Das ist wahrscheinlich eine nicht ganz falsche Beobachtung. Aber neben der Tatsache, daß jetzt bei uns also zwei Krimi-Artikel drin waren, muß man auch sehen, daß in den letzten sechs Jahren überhaupt keine waren. Und wir also nur punktuell gewiße Dinge anreißen, die uns interessieren in diesem Kulturteil. Also nicht in dem Sinne: daß ist es jetzt, was wir verkünden. Also, das waren halt mal drei solche Sachen.
Inwieweit eine verlorene politische Subjektivität sich versucht auch über die Lage des Kriminellen etc. zu rekonstruieren ist eine andere Sache. Da ist natürlich viel dran. Das führt dann in die NWA-Diskussion.
Beziehungsweise gibts da noch einen ähnlichen Zufall: Es gibt ja diese andere Konkret, Konkret-Literatur. Da bekamen die Mitarbeiter den Auftrag: Besprecht vier Bücher - irgendwas. Vier Bücher, die nicht gerade ganz alt sind. Und der Zufall ist, daß sowohl ich, als auch Klaus Bittermann Joan Didien besprochen haben. Das ist das einzige Buch, das doppelt genannt ist in dem ganzen Text. Das einzige, wo zwei Autoren, die jetzt auch die beiden Positionen, die du gerade angesprochen hast, sozusagen bezeichnen, unabhängig voneinander drauf gekommen sind, das zu besprechen . Das ist vielleicht ein Symptom, das sich in diese Beobachtung einreihen ließe.
Ort zu schreiben
FRAGE: In deinem Aufsatz zu Gremlizas 50. Geburtstag hast du geschrieben, daß du einen anderen Ort zu schreiben suchst. Bist du noch auf der Suche und könntest du diese Suche im Spannungsfeld zwischen Konkret, SPEX und Texte zur Kunst beschreiben?
DIEDERICHSEN: Im Grunde genommen suche ich den nicht unbedingt. Also das ist natürlich im Rahmen dieser Gremliza Würdigung zu sehen und da habe ich natürlich an andere Leute gedacht, die diesen Ort suchen. Ich suche ihn im Moment gerade nicht, weil ich an größeren Sachen sitze oder längerfristigen, die sowieso in dem Sinne keine Zeitschriftenkompatibilität haben.
FRAGE: Bücher?
DIEDERICHSEN: Ja, da kann man jetzt schlecht was drüber sagen. Auf jedenfall soviel, daß diese Suche entfällt. Die könnte aber sofort wieder ein Problem werden, wenn ich damit fertig bin. Und insofern konnte ich das auch sagen in dem Text.
Es ging ja auch darum inwieweit sozusagen die Orte, die da erwähnt werden, sich selber so gestalten, daß sie möglich sind für andere. Inwieweit Konkret Leute ausschließt und inwieweit diese Ausschließungspraxis einerseits berechtigt ist und andererseits dann doch nicht.
Das hängt natürlich auch mit meinem Interesse oder meiner Beschäftigung mit den künstlerischen und politischen Avantgardegruppen der letzen vierzig, fünfzig Jahre zusammen und eben genau dieser Problematik wie sie mit ihrer Umwelt umgehen. Mit ihrer unmittelbaren Umwelt. Wie sie Einschlüsse und Ausschlüsse praktizieren. Wieweit sie Opferungen praktizieren, wieweit sie in einem bestimmten Stadium, das aber längst vorbei ist, verständlich und notwending waren und inwieweit sie sich andere Praktiken ausdenken müssen. Von der Situationistischen Internationale bis hin zu Konkret oder so. Darum ging es mir eigentlich.
FRAGE: In dem Text heißt es auch sinngemäß, daß SPEX für dich nicht mehr der Ort zum Schreiben sein könnte, denn wenn er es weiter sein sollte, wäre es exklusiv dein Ort geworden.
DIEDERICHSEN: Ja, das ist halt eben auch das Gremliza-Problem. Irgendwann breitet man sich durch das, was einen interessiert dermaßen aus, daß man eben für andere Leute die Luft verpestet oder so. Und das ist natürlich eine Problematik bei Gremliza, dem es nie gelungen ist, sozusagen einen Nachfolger zu finden. Oder eben das Problem der anderen Leute, die auch immer gleich gegangen sind. Es gibt da ja keine konstante Redaktion seit 74 oder nicht mal für kürzere Zeit. Und wenn, dann ist es eine Redaktion von Volontären, die dann irgendwann wieder gehen.
In letzter Zeit ist das vielleicht etwas anders geworden. Ich habe Konkret seit den frühen 80ern mitbekommen und auch vorher schon gelesen und da gab es das ja nie. Und da gabs auch immer Ausschlüsse mit großem Getöse. Jetzt zuletzt, anfang dieses Jahres ging es ja auch wieder los: Wo man sich für immer trennte von dem und dem und dem. Und immer trennte von der und der, dem früheren Bündnisspartner. Und das ist bei SPEX natürlich nicht ganz so dramatisch. Es ist auch weiterhin ein Ort zum Schreiben für mich. Aber nicht mehr in dem Sinne von: eine redaktionelle Arbeit bestimmen wollen.
Situationisten - historische Analysen
FRAGE: Dein Interesse an den Situationisten, könnte man das ganz simpel so formulieren, daß das eine Theorie ist, die auch gleichzeitig Pop ist, die zum Beispiel in dieser Debord Schrift Society of Spectacle eben den frühen Marx und Entfremdung - solche einfachen Kategorien - mit dem Problem der Langeweile verbindet und den Fehler einer nur semiotischen, oder rhetorisch gemeinten Synthese nicht begeht.
DIEDERICHSEN: Es ist ziemlich kompliziert mit dem Interesse an den Situationisten. Denn es hat ja auch eine Geschichte, die sich ändert. Es ist zwar nach wie vor vorhanden, aber letztendlich ist Situationismus eine Folie vor der man Unterschiede und Gemeinsamkeiten ähnlicher Ansätze herausarbeiten kann.
Was mir sehr gut gefällt ist, daß man zum Beispiel den Aspekt der Collage herausarbeiten kann, die als künstlerische Technik im Situationismus eine Rolle gespielt hat. Eben schon anders als zu Dadazeiten. Eben diese spezifische Collage der Situationisten, die auch sehr popig war. Situationismus hat ja in seinen Zeitschriften sehr - Roberto Ohrt kann viel dazu sagen - sehr päzise zitiert. Und zwar ganz bestimmte Sachen. Diese ganzen Publikationen der Situationistischen Internationale orientieren sich ja in Layout und Design an Publikationen französischer Industrieverbände der vierziger und fünfziger Jahre.
Solche Sachen sind sehr interessant. Wie dabei die Collage grundsätzlich eine andere Rolle gespielt hat - und eben davor im Dadaismus etc. Und welche andere Rolle sie heutzutage musikalisch zum Beispiel im HipHop spielt, was ja immer wieder gesehen wird als Collage, aber im Grunde genommen das Gegenteil einer Collage ist. Nämlich der Versuch der Herstellung einer Kontinuität und sozusagen Geburt einer Nation.
Also solche Sachen kann man eben sehr gut am Situationismus studieren.
Ein anderer Aspekt ist das Umgehen einer Bewegung mit ihrer Umwelt, Ausschlußpraktiken etc. Der dritte Aspekt ist, wieweit kann eine politische Bewegung Künstler aushalten und umgekehrt. Was nach wie vor ein wichtiges Thema ist und was umgekehrt absolut klar und paradigmatisch da vorliegt in Dokumenten. Das sind natürlich alles Sachen die kaum eine andere Nachkriegsbewegung so ausgearbeitet hat.
Wenn man sich sowas wie Fluxus anguckt, da gibts zwar hin und wieder einzelne Statements und Vorgänge, die sehr interessant sind, aber im Ganzen versinkt das dann ja - oder auch der Wiener Aktionismus - in einer Brühe von Desinformation, Mystifizierung und so weiter.
Das soll jetzt nicht gegen die künstlerischen Bewegungen im einzelnen sprechen, sondern dagegen, daß alle diese Bewegungen keinen vernünftigen Historiker, keine Denker hatten, sondern eben Künstlerbewegungen waren. Auf der anderen Seite liefern die politischen Bewegungen, die völlig ohne Künstler ausgekommen sind auch kein Material.
FRAGE: Verstehst du das historische Interesse, das du bei den Situationisten findest als Gegenwaffe zu diesem absolut angekommenen Simulationsgefasel, das zur Zeit die Feuilletons besetzt.
Daß Situationisten als Künstler ihre Kritik an virtueller Repräsentation festmachen, aber dann doch zu einem Subjekt kommen oder Kriterien wie Entfremdung und falsches Leben. Und diese Kriterien auch durchhalten.
DIEDERICHSEN: Ja, wobei ich da doch den Anspruch stellen würde, daß man diese Kriterien - als Kritik an Jean Baudrillard - dann doch noch ein bißchen weitertreiben müßte, als sie allein auf die Situationisten zu beziehen. Weil die nämlich im Grunde genommen die Vorläufer von Baudrillard waren.
Man kann, glaube ich, nicht weit kommen, wenn man einfach die Begriffe wie "falsches Leben" aus der Epoche übernimmt und einfach appliziert. Ich glaube, das ist auch abgeschlossen.
Was ich eben zum Situationismus gesagt habe ist hilfreich im Vergleich. Aber man kann nicht einfach das, was eingedenk von Situationisten gesagt worden ist - auch wenn es seine Schwächen kritisiert - einfach übernehmen, indem man einfach noch einen Schritt zurück geht. Es hilft natürlich. Das ist ein anderer Aspekt. Aber das sind nicht die Situationisten, das ist der Autor Guy Debord.
Guy Debord hat natürlich, vergleichbar nur mit Karl Einstein oder Franz Jung, eine analytische Sprache, die eben poetisch und literarisch den höchsten Ansprüchen genügt. So eine lakonische Knappheit, die trotzdem auch in der Übersetzung noch ein Höchstmaß an Analytik erlaubt. Und das ist natürlich dann noch mal ungeheuer inspirierend und Klasse. Das ist wieder was anderes.
FRAGE: Zwischenfrage. Kann sein, daß es eine Totschlagsfrage ist. Kannst du dich in dieser Geschichte, die du eben beschrieben hast, oder dieses Gewimmel von Geschichten - Künstler ohne politische Köpfe, politische Bewegungen die keine Künstler aushalten - kannst du dich in der Geschichte - mit oder in der du ja seit zehn Jahren arbeitest - selber einordnen, Position beziehen, oder Wechsel nachzeichnen?
DIEDERICHSEN: Schwer, weil Bewegungen waren es ja eher weniger. Waren es ja vielleicht schon, immer gebunden an Institutionen. Vorgefundene oder selbstgeschaffene. Und in allen Gruppen, Arbeiten, taucht natürlich so etwas auf. Also ich kenne das alles auch aus der eigenen Praxis, Ausschlußprobleme usw. Aber die Situation in den 80er Jahren war einfach so: Es gab kein Zur-Rechenschaft-gezogen-werden in dem Maße, wie das innerhalb der reinen Künstlerbewegung, die früher stattgefunden haben, der Fall war. Selbst da war es ja so, daß es Trennung nur aufgrund künstlerischer Differenzen gab.
Und wenn man eine Zeitschrift macht, die sozusagen auch eine ökonomische Position darstellt und sogar, wenn auch in geringem Maße Leute ernährt, nicht so sehr die, die sie inhaltlich machen - aber immerhin gibt es hier eine Geschäftsführerin, die davon lebt und eine weitere Frau, die hier arbeitet - treten ja noch andere Kräfte auf, die dann immer noch stärker sind als es je eine Kritik sein könnte.
Keine inhaltliche Kritik kann sozusagen ökonomische Realitäten überbieten. Das ist jetzt schlecht ausgedrückt. Die Zeitschrift ist noch mehr, als ein rein inhaltlich fixierter Diskussionszirkel. Sie spielt für viel mehr Leute eine Rolle als es je eine dieser typischen modernen Avantgardebewegungen sein könnte.
FRAGE: Ich hab das auch nicht auf die Institution SPEX, oder allgemeiner Zeitschrift bezogen, sondern auf die literarische Praxis, auf deine Arbeit als Kritiker. Nimmst du als Kritiker Anteil an Bewegungen? Ist deine literarische Praxis von ich sage mal der Geschichte dieser Bewegungen abhängig oder ihr übergeordnet. Ziemlich abstrakte Frage jetzt. Aber du produzierst ja als relativ bekannter Autor nicht nur Artikel, sondern selber Geschichte. Bist du dann das Subjekt oder Objekt der Geschichte?
DIEDERICHSEN: Das ist nicht nur eine auf mich anwendbare Frage. Muß ich mal kurz drüber nachdenken. Natürlich bin ich nicht das Subjekt der Geschichte, selbst meiner eigenen nicht alleine. Im Grunde läuft das ja hinaus auf die Freiheitsfrage. Inwieweit bin ich da frei? Und dazu grundsätzlich: Man ist natürlich nie frei und man ist natürlich nie Subjekt. Aber eine Technik der Determiniertheit ist, das man sich dabei als Subjekt denkt. Andernfalls kommen die Determinanten nicht zum Zuge. Daran endet glaube ich dieses Problem. Im nächsten Moment, nachdem das Subjekt gehandelt hat, weiß es, daß es nicht als Subjekt gehandelt hat. Aber in dem Moment, wo es handelt, denkt es, als Subjekt zu handeln.
FRAGE: Na gut. Also ich habe mit zwei Antworten gerechnet, nämlich: "Das interessiert mich nicht" oder " Davon - über dieses Wechselspiel - schreibe/rede ich die ganze Zeit."
DIEDERICHSEN: Ja, aber ich mußte eben noch etwas zusätzliches sagen, nämlich etwas allgemeines zum Freiheitsproblem. "Interessiert mich nicht" sag ich ja nie. "Davon rede ich die ganze Zeit." Nein. Eigentlich nicht.
KONKRET ABSCHIED VON SUBVERSION
FRAGE: Kann man sagen, daß deine Konkret-Kolumnen den Zweck hatten, ein ursprüngliches, linkes Botschaftsverständnis aufzusprengen und Konkret-Lesern gerade so etwas wie die Subversivität von "grooves" oder "beats" nahe zu bringen?
DIEDERICHSEN: Also Subversivität, das muß ich jetzt mal sagen, ist ein Begriff, den ich in dem Zusammenhang nicht mehr verwenden würde, weil seit Hip Hop klar ist: Das ist nicht mehr einfach subversiv.
Subversiv wäre die Richtung zur Auflösung hin. Aber das versucht ja immer auch konstruktiv zu sein. Das ist ja immer stiftend. Es ist ja eine doppelte Bewegung. Zumal ich auch der Meinung bin, daß sich alles zu Tode subvertiert hat. Subversion ist an ihrem Ende angekommen, denn es gibt ja gar nichts fixes mehr was sie auflösen könnte. Und ihre Hoffnung, daß, wenn sich alles fixe aufgelöst hat, es ersetzt würde durch sozusagen eine freie selbstregulierende Richtigkeit, hat sich ja nicht erfüllt. Insofern wäre ich mit dem Begriff auch vorsichtig.
Ansonsten ist es so: Die Konkret-Kolumnen haben wie die anderen Texte in Konkret auch immer die Funktion gehabt einerseits sich in dem Spektrum das das Blatt vertritt zuzuordnen, das heißt nicht den Kontakt dazu zu verlieren, trotz aller Paradoxa in die das geschlittert ist. Und früher vielleicht, um dem noch ein Gegengewicht innerhalb der Bewegung entgegen zu setzen. Da es jetzt aber auch so ist, daß in Konkret ja gar nicht mehr klar ist wo das hingeht und eigentlich nur noch reagiert wird, würde ich fast sagen, daß es schon fast wieder der Versuch ist, da konstruktiv zu wirken.
Wenn ich in Konkret relativ viel über Rassismus rede, dann denke ich, das wäre doch ein Bezugspunkt für die Arbeit von Konkret, der zuwenig genutzt, oder zu sehr als deutsches Problem gesehen wird. Und als Linke mit einem Interesse an Universalisierung und Internationalisierung von Problemen wäre das doch ein Ansatzpunkt. Es ist also gar nicht subversiv im Konkret Kontext gemeint, sondern eher konstruktiv.
Hip-Hop / Weißer Underground
FRAGE: Bei den längeren Texte, Inhaltsverzeichnis einer Theorie und Geschichte der Unversöhnlichkeit behauptest du, daß es einige Gegensätze zwischen Hip Hop und weißem Underground gibt. Weißer Underground definiert sich nicht über manifeste Botschaften, über word, sondern strebt nach Dissidenz über Sound. Und Hip Hop transportiert im Gegensatz dazu Aussagen, Inhalte, politische Subjektivität. Auch deine Chumbawamba-Kritik ging in die Richtung. Würdest du diesen Gegensatz heute noch so aufrecht erhalten? Warum diese Entgegensetzung?
DIEDERICHSEN: Ein entscheidender Punkt, unabhängig von allen anderen gesagten, ist der: Weißer Underground arbeitet ja so: Der einzelne ist nicht mehr zuständig; Künstlerpersönlichkeit existiert nicht mehr; der Mensch als Autor von Menschen ist irgendwie abgetreten. Was kann man jetzt tun? Man könnte jetzt versuchen als Mensch sich in das nicht mehr menschliche zu integrieren und das wäre sozusagen eine Techno-Position. Man könnte sozusagen versuchen aufzugehen in der medialen Realität.
Die zweite Möglichkeit ist, sich sozusagen zu verhalten wie der Arbeitslose, der um seiner Frau nicht zu verraten, daß er arbeitslos ist, mit einer Aktentasche aufbricht, die acht Stunden in einem Park absitzt und dann wieder nach Hause geht. Das ist im Prinzip das Vorgehen des weißen undergrounds. Nur! Was in diesen Geschichten von den Arbeitslosen, die sich in den Park setzen nicht vorkommt, ist natürlich, daß man im Park alles Mögliche erlebt. Und das ist sozusagen das Interessante am weißen Underground, jedenfalls an den gelungeneren Beispielen: Man erlebt irgendwas im Park. Und das ist so was, was in diesen 88/89 viel diskutierten Geschichten, Chuck Dukowski, etc, zu finden wäre.
Und die dritte Möglichkeit ist: man hat das Problem überhaupt nicht. Und das ist Hip Hop. Man hat dieses Problem nicht, weil der Mensch noch gar nicht abgetreten ist, weil er noch gar nicht zum Zuge gekommen ist. Und da bietet sich was ganz anderes.
Man arbeitet dann nämlich auch mit der ganzen Medienrealität, aber man sieht sich von einem ganz anderen Standpunkt. Man hat die Geschichte noch nicht hinter sich. Und diese ganze Möglichkeit, eine Geschichte zu simulieren, die in Europa kulturpessimistisch betrachtet wird als ihr Ende, wird gesehen und auch in der Praxis behandelt als ihr Anfang.
In dem Moment, wo man nämlich aus diversen schwarzen Schallplatten die es gibt ein Hip Hop Archiv konstruiert, das abrufbar ist, behauptet man ja erst, daß es eine Black Nation gibt. Darüber konstruiert man erst Geschichte. Und das ist erst mal zwar eine genau simulierte Geschichte, aber sie spielt für die Beteiligten eine andere Rolle als in Mitteleuropa, wo es das Ende von Frankreich oder das Ende des Abendlandes ist. Dort ist es der Anfang.
Und das ist der grundsätzlich nicht überbrückbare Unterschied zwischen dem Arbeitslosen im Park und der Eroberung der Maschine.
FRAGE: Was würdest du denn dem Olaf Dante Marx als Hip Hop Hasser antworten, der auf den Unterschied zwischen Kulturpolitik und Politik anspielt, wenn er sagt: Public Enemy beuten Politik nur aus.
DIEDERICHSEN: Da ist natürlich auch was Wahres dran. Aber da ist dieses Verb ausbeuten falsch, weil es nahe legt, da gäbe es eine parasitäre Beziehung. Natürlich ist das Verhältnis von Public Enemy zu Politik nicht so, wie es konventionell europäisch links gedacht wird. Also in einem Zusammenhang arbeiten, und dann die entsprechenden Bilder suchen etc.
Die Art wie Public Enemy sich mit allem möglichen Bildern schmücken und Gesten zitieren legt diesen Gedanken "Ausbeutung" nahe. Nur ist natürlich das keine Ausbeutung, weil es sich um eine vollkommen andere Art von Politik handelt. Eine Politik in der eben diese geklauten Bilder eine Realität haben und nicht nur ein witziges Zitat sind. Sie sind zwar ein witziges Zitat, aber sie haben anders als in einer Welt, wo witzige Zitate nur noch ornamentale Funktion haben, eben keine ornamentale Funktion, sondern eine existentielle. Das kann man von hier aus schwer verstehen. Aber es ist so.
Und das ist auch ein altes Problem zwischen diesem Dressup und Dressdown Problem zwischen weißem und schwarzem Underground, das es eigentlich seit Jahrzehnten gibt. Die Hippies bei Fly and the Family Stone haben in den späten Sechzigern immer gesagt: Wie sind die Scheiße angezogen mit den komischen Bügelfalten! Was soll der Scheiß? Das ist im Grunde dasselbe was Olaf da wahrnimmt, aber falsch versteht.
FRAGE: Wenn man sich neue Platten wie Poor Righteous Teachers oder PM Dawn anhört, bei denen eigentlich diese Hip Hop Definitionen nicht mehr zutreffen, weil die sowohl musikalisch wie inhaltlich ihre Verbindungen mit Islam, black nation, etc in gängige Pop-Technik auflösen, scheint dieser Standpunkt zu HipHop nicht mehr zu stimmen.
DIEDERICHSEN: Auf was beziehst du dich jetzt? Welche Einschätzung soll ich revidieren, die ich wo gegeben habe?
FRAGE: Ich meine in der neuesten Spex die Berichte über Leaders of the New School und Poor Righteous Teachers, sowohl was inhaltlich gesagt wird, daß die z. B. von diesem Islam Ding weg gehen. Dann kommt diese five percenter Sache auch noch mit rein. Und jetzt - mal ganz dumpf gesagt - wird ja angefangen bei PM Dawn statt von Hip Hop von "Gesangsstil" zu reden.
DIEDERICHSEN: Nein, ich würd nicht sagen, daß sich da prinzipiell sich was verändert hat. PM Dawn würd ich da mal rauslassen, die sagen ja selbst rund um die Uhr, daß sie kein HipHop sind. Außerdem glaube ich nicht unbedingt, ich habe zumindest nicht gemeint - wenn es in der Besprechung, die du meinst so geklungen hat, ist es was anderes - daß da jemand vom Islam weggeht.
Ein Aspekt im Mittel-Klasse Hip Hop ist natürlich der, daß das, was an sich in der schwarzen separatistischen Politik nicht drin ist, nämlich der Generationenkonflikt dort natürlich eine Rolle spielt. Und dafür stehen meines Erachtens die Five Percenter. Nicht in ihrer ganzen Geschichte, aber so, wie das heute wahrgenommen wird.
Ich kann das auch nicht richtig gut beurteilen, weil ich auch jetzt sechs Monate nicht in New York war. Aber ich glaube Five Percenter sind eher schon eine Jugendorganisation. Und Nation of Islam ist ja richtig große Politik. Und zu dem schon konservativ in ihrem Habitus, sodaß da also so ein Aspekt reinkommt. Der kommt auch rein - eigentlich auf ganz andere Weise ziemlich interessant - wenn Chuck D. plötzlich sagt: "Wenn ich sage, ich unterstütze Louis Farrakhan, dann haben die weißen Rockkids, die in die Public Enemy Konzerte kommen, keine Probleme damit. Aber ihre Eltern." Also auch Chuck D. sieht plötzlich so was, wie Jugend, Generationenkonflikt, Jugendkultur. So was als Bündniss im schwarzen Kampf. Was noch vor drei, vier Jahren nie geäußert worden wäre. Also da ist vielleicht ein kleiner Umbruch. Aber das interessante ist, daß Chuck D. sich dabei wieder auf die richtige Nation of Islam bezieht, also Farrakhan. Außerdem gibt es noch ein ziemlich nahes beieinanderstehen von Five Percentern und Nation of Islam.
Es ist ja nicht so getrennt. Zumal ja eben auch die ganze schwarze Diskussion ja auch versucht nach außen hin Konflikte , unterschiedliche Einschätzungen möglichst nicht zu thematisieren. Die wollen ja, und das ist ja auch taktisch sehr leicht zu verstehen, nicht gespalten werden von außen. Wollen nicht, daß mit der einen schwarzen Fraktion sich die einen Weißen verbinden, mit der anderen schwarzen Fraktion die anderen. Wie es in den 60er Jahren war.
FRAGE: Gut. Obwohl ich Dante Marx teilweise verstehen kann, wenn ich an den ersten Public Enemy Artikel in Spex zurückdenke. Ich glaube, Niemczyk hat das gemacht und von einer paramilitärischen Undergroundorganisation gesprochen wurde, das aber nie weiter verfolgt worden ist. Die wollten also ja auch politisch wirksam sein. Und du hast auch in der NWA Kritik für Konkret geschrieben, daß es vollkommen verschiedene Lesarten von Hip-Hop gibt. Mir hat in SPEX gefehlt, daß man versucht den realen politischen Hintergrund genauer darzustellen. Das heißt zu Beispiel auch, was eine schwarze Feministin real von den Texten denkt, wie sie dagegen hier goutiert werden etc.
DIEDERICHSEN: Das ist auch unheimlich schwer hinzukriegen. Denn wenn du eine schwarze Feministin danach fragst, wenn DU sie danach fragst, dann sagt sie nicht dasselbe, wenn eine andere schwarze Feministin sie danach fragt. Das kann man nicht so verallgemeinern. Aber aus besagten taktischen Gründen. Und auch berechtigten taktischen Gründen.
Da gibt es ja auch eine interessante Diskussion, beispielsweise die Bücher von Michelle Wallis, die ich nicht müde werde zu empfehlen. Die hat ja schon in den frühen 80ern versucht, den schwarzen Machismo von Innen zu kritisieren, indem sie gesagt hat, der ist ein Effekt des weißen Rassismus, der aber nicht alleine dem weißen Rassismus anzulasten ist. Der müßte auch innerhalb der Community anders diskutiert werden. Hat dann auch ziemlichen Ärger bekommen, hat aber dann auch immer weiter an diesem Thema gearbeitet. Hat zuletzt "Do the right thing" symphatisierend, aber unter diesem Aspekt kritisiert. Das gibt es alles. Nur. Würde ich jetzt hingehen - gut bei Michell Wallis würde es vielleicht klappen, aber in der Regel eben nicht - würde man wahrscheinlich diese verschiedenen Lesarten nicht rausfiltern können.
Und worauf ich mich in dem NWA-Artikel bezogen habe war ja ein Flugblatt einer kommunistischen Partei, Revolutionary Communist Party, wo aber viele Schwarze traditionell drin sind. Eigentlich eine maoistische Bewegung, in der in den 70er Jahren schon viele Schwarze drin waren. Die haben also ein Flugblatt gemacht: You`re not fighting the power when you`re dissin` a sister. Und das bezog sich auch auf NWA, zunächst mal NWA verteidigend, sie also gegen FBI usw. in Schutz nehmend. Aber eben: "...verheerende Wirkungen innerhalb der Community..." und so fort.
Und da hab ich nur gemeint - indem ich NWA für hier verteidigt habe - daß das natürlich erstmal Vorrang hätte. Wobei das mit hier erstmal nichts zu tun hätte.
FRAGE: Die Bedeutung dieser im Bezugsrahmen Hip Hop geführten Auseinandersetzungen bleiben bestehen, die Sätze bleiben Argumente, auch nachdem die bewaffnete Macht aller kommunistischen Parteien, die Sowjetunion verschwunden ist? Gibt das Verschwinden einer realen politischen Gegenmacht nicht Anlaß die Aussagen von schwarzen Kommunisten in Amerika jetzt anders zu interpretieren?
DIEDERICHSEN: Die gibt es ja fast nicht. Diese Revolutionary Communist Party nennt sich zwar Communist Party, nennt sich maoistisch, aber ihre Arbeit besteht hauptsächlich darin, einen Buchladen zu machen: Revolution Books. Und in dem Buchladen gibt es hauptsächlich Texte von Farrakhan bis Frederic Jameson. Was alles keine Kommunisten sind, aber Leute die irgendwie im Kampf stehen. Und wenn du an die Kasse kommst dann kriegst du irgendwie noch ein Pamphlet von ihrem komischen Leader da, von Awakin´, in die Hand gedrückt. Aber das ist auch alles was die noch machen. Die Partei hat halt eine komische Tradition, eng mit schwarzem Widerstand, was so übriggeblieben ist in den 70ern, mit Black Panther zusammengearbeitet zu haben. Das ist halt jetzt noch da und deswegen verkaufen sie Farrakhan, obwohl Farrakhan und Communism wirklich nicht zusammengehen.
FRAGE: Darauf wollt ich hinaus: Ist der politische Horizont, den du mit Blick auf Hip Hop beschrieben hast, nicht nur ein tröstlicher Gedanke eines westeuropäischen Linksintellektuellen, der mit Hip Hop ein Reservoir findet, um seinen real geschwächten Begriffen erneut Aussagekraft zu injizieren.
DIEDERICHSEN: Diese Gefahr ist natürlich immer gegeben. Ich meine, westeuropäische Linke, das ist ne alte Sache. Ich meine schon in den 70er Jahren, Nicaragua Kommittees waren natürlich eine Entschuldigung hier etwas nicht analysieren zu müssen. Obwohl Nicaragua Kommittes hier eine richtige Arbeit gemacht haben waren sie auch eine psychische Entlastungsfunktion von komplexeren Widersprüchen .
Aber was die politische Dimension von Hip Hop betrifft: Die hat es natürlich als universale nicht, aber als partikularer Kampf unbedingt. Da kann man natürlich jede Menge Beispiele aufzählen, wo HipHop ganz konkret eingegriffen hat. Oder seine Protagonisten eingegriffen haben, in diese ganzen partikularen Geschichten innerhalb der amerikanischen Metropolen. Also von dem Tiruana Brawley Fall, dem Bensonhurst Fall, die Dinkins Wahl. Also das, bis hin zu der ganzen Two Live Crew Geschichte.
Und davon kann man auch was ganz anderes ableiten, wenn man sich Amerika insgesamt ansieht: Man hat da natürlich eine Kultur von partikularen Bewegungen - eben keineswegs nur die Schwarzen - sondern auch die schwarzen Homosexuellen, die schwarzen homosexuellen Frauen. Und noch wieder ganz andere Definitionen. Und man ahnt so etwas, wie, daß politische Subjektivität sich aus solchen Überdeterminiertheiten ergibt. Natürlich nicht objektiv, sondern wenn man so will subjektiv. Aber das ist natürlich ein Vorgang der dann doch übertragbar ist. Der ist in seiner Abstraktheit wieder universalisierbar . Und insoweit kann man sich da noch ankoppeln.
Theorie / Medien / Politik / Amerika
FRAGE: Stichwort Laclau/neue politische Theorien. Kannst du sagen, welche Erfolge, die von diesem Theoretiker beschriebene Mikropolitik gebracht hat?
DIEDERICHSEN: Oh das ist schwer, wenn sie das überhaupt hat. Natürlich hat sie das. Wobei, Laclau ist ein Problem für sich. Der Name, den die sich geben Laclau und Move ist ja "direkte Demokratie". In ihrer Marxismuskritik sind die schon ziemlich gut, aber was am Ende dabei raus kommt läuft Gefahr einfach nur als linker Flügel der F.D.P. durchzugehen.
Der andere Teil der Frage. Welche Erfolge hat Mikropolitik gehabt? Muß ich passen. Mikropolitik hat immer den Erfolg, daß es dieses und jenes gibt, daß etliche Lebensformen existieren. Nur, das sind Partikularerfolge und was anderes erwartet man auch nicht davon.
Es ist ja auch nicht der Weisheit letzter Schluß. Es ist ja nicht so, daß anstelle des großen Fehlers, richtige Politik machen zu wollen, die weisere Einsicht tritt, sich auf kleinere Dinge zu beschränken. Sondern aus dem fundamentalen Scheitern mit richtiger Politik tritt das Kräftesammeln und sich an bestimmten Orten betätigen.
FRAGE: Das erinnert mich an die These in einem Aufsatz in dem Band "Die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen", die besagt, daß die Krise des Marxismus auch damit zusammenhängt, daß der fordistische Kapitalismus nicht mehr existiert.
DIEDERICHSEN: Wo hast du das gelesen?
FRAGE: Das Buch heißt "Die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen". Da ist auch dein Beitrag "Islam und Black Muslim in der schwarzen Musik" abgedruckt.
DIEDERICHSEN: Das habe ich noch nie gesehen dieses Buch. Sehr interessant, daß es das inzwischen gibt. Ich habs nämlich nicht. Ah ja. Das ist diese Kofler Festschrift.
FRAGE: Jedenfalls geht es da in einem Beitrag darum, daß dieser fordistische Kapitalismus nicht mehr existiert, sondern...-
DIEDERICHSEN Genau das steht auch in 17° Celsius drinn. Vielleicht ist das ja auch derselbe Text. Ich habe nämlich gerade so einen Text desselben Inhalts in dieser Hamburger Zeitschrift 17°Celsius gelesen... -
FRAGE: -...diese alte Frontstellung Arbeiterklasse Kapital mit ihren zentralen Widersprüchen aufgelöst ist und der Marxismus deshalb in die Krise gekommen ist, weil er in seiner klassischen Form eben darauf aufbaut. In dem Zusammenhang, also diese Ansätze weiter zu denken, habe ich auch den Laclau gesehen.
DIEDERICHSEN: Ja jede neue Möglichkeit, jedes weiter denken, das noch im entferntesten was mit Marxismus zu tun hat, muß sich ja fragen, wer tritt an die Stelle der Arbeiterklasse? Das ist ja die alte Frage. Da gibts die 70er bis mittlere 80er Antwort: Die dritte Welt. Die funktioniert ja aber auch deswegen nicht, weil der Reichtum der ersten Welt ja wirklich nicht auf der Ausbeutung der dritten Welt beruht, sondern nur zu einem geringen Teil. Und das Elend der dritten Welt nicht auf der Ausbeutung, sondern der Nichtmalmehrausbeutung.
Und von da aus müßte man zum Beispiel das, was ich vorhin schon gesagt habe - die Überdeterminiertheit als politische Subjektivität in Amerika - das müßte man übertragen auf Weltverhältnisse: Die Determiniertheit, gleichzeitig in verschiedenen Stadien von Ausbeutung und Diskrimierung sich zu befinden. Und daraus (so) etwas, (wie ein politisches Subjekt) ableiten.
Das können dann aber nicht mehr global Die Dritte Welt, oder die wie Die Dritte Welt behandelten Teile der Ersten Welt sein, sondern das müßte dann konkret sein.
Auf der anderen Seite reicht es natürlich nicht, das mikropolitisch zu bestimmen. Weil dann bleibt eben eigentlich immer nur so eine Verteidigung von irgendwelchen Freiräumen. Und das ist sowieso ein Erste Welt -Problem.
FRAGE: In dem Zusammenhang sind ja auch einige "Texte zur Kunst"-Beiträge interessant. Beispielsweise Artikel von Manfred Hermes, der über Act Up geschrieben hat.
DIEDERICHSEN: Unbedingt. Hermes ist da sehr drann an dem Problem. Er hat ja auch im neuen Konkret ( Okt. 91) einen Text zu diesem Thema, der im Grunde noch weiter geht als der in "Texte zur Kunst". Es geht über dasselbe Thema. Auch anläßlich dieses Jenny Livingston Films, diesem "Paris is burning" hat er das Thema weiter bearbeitet.
FRAGE: Es fällt auf daß du an theoretischen Texten eher Amerikaner empfiehlst. Z. B. über Rassismus, oder eben den Laclau, um mal einen zu nennen. Kommt das daher, daß die in Deutschland geführten Diskussionen, oder die in Frankreich gängigen Theorien momentan für dich nichts sind, daß da eine Art Vakuum ist, das einen dazu bringt sich in Richtung USA zu wenden und sich dort die Leute anzuschauen?
DIEDERICHSEN: Na ja. Die Amerikaner haben halt eine beeindruckende Praxis. Das ist der einzige Grund. Wenn ich nicht mehr Kontakt zu Amerika hätte, wenn ich also nur hier säße und lesen würde weiß ich nicht, ob ich das genau so machen würde.
Aber in Amerika hängt das halt immer alles direkt mit Aktivitäten zusammen. Und das erstaunliche, was ich ja auch einmal in Konkret geschrieben habe, ist ja, daß die Namen Lacan und Derrida, also Haupteinflüsse der 80er Jahre, die in Deutschland und so wie ich das beurteilen kann auch in Frankreich die Depolitisierung eingeleitet haben, in Amerika das Gegenteil mit sich brachten.
Das heißt: Theoretische Texte sind sowieso in erster Linie nur danach zu beurteilen wie man sie verwendet. Deshalb ist es, übertrieben gesagt, ohnehin egal was man liest. Man hat ja bestimmte Probleme und keiner ist so blöd, die Probleme nicht irgendwie verstehen zu können. Wie er sie dann begrifflich ausgestaltet ist fast egal, solange es noch übertragbar ist.
Was in Amerika also beeindruckend ist, ist die Fülle von Aktivitäten. Was eben damit zu tun hat, daß in Amerika jemand der nicht sozusagen um seinen ride kämpft auch wirklich untergeht und daher viel, viel mehr Bewußtheit darüber besteht, wie bedroht irgendeiner ist.
Das ist hier ja etwas anders. Das wird sich vielleicht bald ändern.
Deutsche Ideologie / Kittler / Weibel
FRAGE: Zur Depolitisierung läßt sich ja noch anmerken, daß die sogenannten neuen Theoretiker, die jetzt hochkommen in Deutschland, Strategien verfolgen, sich mittels Theorie als Avantgardist installieren zu wollen, indem man wie der Weibel die Kunstgeschichte als Kunstkunstkommentar im Sinne einer Geistesgeschichte laufen läßt und wie Kittler auf der anderen Laufbahn der Medien - und Techniktheorie sich gegen einen Humanismus und ein Subjekt von 1800 wendet.
DIEDERICHSEN: Also Kittler finde ich sehr anregend und auch gut. Weibel weiß ich nicht, kenne ich auch nicht so gut. Ich denke, daß man mit Kittler noch sehr viel mehr anfangen kann.
FRAGE: Aber das ist doch ein rein universitäres Problem, was der hat.
DIEDERICHSEN: Ja? Ich weiß nicht. Ich denke, es ist nicht allein ein universitäres Problem, denn seine Theorie des Archivs und der Medien, die ja von Foucault kommt, ist ja auch so eine melancholische Verabschiedung vom Menschen. Und anstelle dessen gibt es die von alleine laufenden Medien, die sich immer nur erneuern wollen und die die Geschichte weiter treiben. Und das ist eine richtige Beobachtung. Die Frage ist nur, was man jetzt macht damit, als Mensch oder als - . Und das ist das, worüber ich vorhin gesprochen habe.
Was man damit machen kann ist nämlich entweder mit der Aktentasche in den Park zu gehen oder zu versuchen , wie es Kittler im Schluß seines "Grammophon, Film und Typewriter" nicht vorschlägt, sondern feststellt, das Glück in der Disco, die Schaltkreise der CD zu hören. Das ist ja in der Tat die Alternative für Mitteleuropa.
FRAGE: Einzuwenden wäre dann aber, daß dieser ganze Ansatz, z. B. die Konstruktion des Subjekts aus den Praktiken der Alphabetisierung nachzuzeichnen, die Praxis von Medientechnik dagegen arbeiten lassen zu wollen und schließlich Lacan quasi als aufklärerische Kraft den Medien zuzuordnen - grob gesagt - die Weltprogrammierung von 1800 wiederholt und imgrunde gegen das alte Subjekt spricht, das es bekanntlich ohnehin nicht mehr gibt.
FRAGE: Stimmt. Aber du kannst Kittlers Medientheorie ja auch gut marxistisch lesen und seine Aussagen als notwendige Konkretisierung der Wahrnehmung verstehen, die Foucault - der ja Auftritt und Verschwinden des Menschen in der Geschichte beschrieben hat - lediglich in abstrakten Bezugssystemen auf den Begriff bringen konnte. Als konkret denkender Historiker. Und damit ist der Anschluß an die Realitäten der Gegenwart möglich.
DIEDERICHSEN: Genau, finde ich auch. Kittler ist Materialist. Nur findet der Materialist heute nicht mehr Materie vor, sondern Medien.
Kittlers Frage ist, soweit ich ihn verstehe, nach diesem Lacanschen Dreierschema Imaginär Symbolisch Real nämlich die: Was ist das Reale, nämlich die hardware des Bewußtseins. Was ist die hardware des Bewußtseins? Und die hardware des Bewußtsein rekonstruiert er historisch. Eben aus Schreibmaschinen, Alphabete und Rechenmaschinen. Und das sind heute eben digitale Medien, die Digitalisierung.
Und die Digitalisierung ist ja bei Lacan unabhängig von den Medien schon mal ein Problem. Also nicht als nur technologischer Effekt, sondern insofern das Reale über diese Janeinneinja-Ausrechenbarkeit codiert ist. Das steht ja im Schluß des Aufsatzes über diesen entwendeten Brief.
In der Tat, diese Lacansche Bestimmung des Realen findet bei Kittler die wesentlich konkretere Bezeichnung Medienmaterialität. Und da denke ich schon, daß das auch ein, wenn auch sehr melancholischer, so doch linker Ansatz ist.
Foucault / Baudrillard / Virillio / Theweleit
FRAGE: Täuscht der Eindruck, daß Foucault einen größeren Stellenwert als früher hat? Zumindest taucht der Name in den neueren Texten relativ häufig auf.
DIEDERICHSEN: Texten von wem?
FRAGE: Von dir
DIEDERICHSEN: Von mir? Wirklich?
FRAGE: Ich hatte jedenfalls den Eindruck. Die Frage war ja, ob dieser Eindruck täuscht.
DIEDERICHSEN: Kann ich weder ja noch nein sagen. Foucault ist immer schon Klasse gewesen. Nur ich habe den nie so wahnsinnig viel gelesen und es war auch nie so etwas - und das ist auch mit das Gute an Foucault - was man direkt verwenden konnte.
Also ich konnte Foucault noch nie verwenden. Ich konnte noch nie einen Gedanken von Foucault übernehmen, weil er dafür doch zu erratisch war. Deswegen aber immer wieder reinkucken. Während Sachen, die man direkt verwenden kann, irgendwann auch erledigt sind. Das ist vielleicht ein Grund.
Aber meinst du jetzt Foucault im Gegensatz zu einem anderen Namen, der verworfen wurde, oder was?
FRAGE: Was heißt verworfen? Ich weiß nicht was alles in deinem Kopf vorgegangen ist in den letzten 10 Jahren. Aber gut, sagen wir "Foucault" im Gegensatz zu beispielsweise - Baudrillard.
DIEDERICHSEN: Ja das ist in der Tat erledigt. Genau. Das ist so: Die Schriften, die irgendwie wichtig waren, mit denen man gearbeitet hat, waren ja die spätsiebziger Jahre Sachen, cool killer und so was. Und was heute so kommt, da kann ich nichts mit anfangen. Erscheint mir auch wahnsinnig beliebig, eine wahnsinnige Spinnerei eben. Gelegentlich natürlich irgendwas schön gesagtes, das man auch wiedererkennen kann. Aber in der Regel doch Scheinprobleme, Raserei, irgendwo hingeführt werden, erfundene Begriffe.
FRAGE: Die du auch in deinen Sachen, deiner Arbeit wiederfindest, wenn du dir heute deine alten Texte anschaust?
DIEDERICHSEN: Klar, klar. Bloß, der Unterschied ist ja wirklich der, daß der doch immer in irgendwelchen Zusammenhängen eingebunden war, was Baudrillard offensichtlich nicht ist. Und das Buch, wo ich dann wirklich gedacht habe, jetzt reichts, war dieses Tagebuch cool memories. Das ist nun wirklich die Härte. Da kommt dann eben: "Der Professor und die Frauen". Und das ist irgendwann nicht mehr zu ertragen.
FRAGE: Virillio schreibt ja glaube ich gerade für die Vogue einen Artikel über "Warum nicht mehr gereist wird in 20 Jahren?"
DIEDERICHSEN: Weil er nämlich nicht mehr reist. Er reist ja nicht mehr.
FRAGE: Haha. Und dann schreibt er deswegen die Vogue voll.
DIEDERICHSEN: Er hat ja das Experiment, daß er bis zum Jahre 2000 seine Wohnung nicht mehr verlassen will.
FRAGE: Ach ja.
DIEDERICHSEN: Der ist dafür perfekt ausgerüstet mit allem was es gibt und will sozusagen vorführen, daß das geht.
FRAGE: Hahaha
DIEDERICHSEN: Nimmt dann auch an Symposien und so weiter Teil via Fernsehschaltung und ist also präsent, macht alles mögliche, aber verläßt seine Wohnung nicht mehr bis zum Jahr 2000, um das eben irgendwie...
(Allgemeines Gelächter)
FRAGE: Okay, das ist jetzt ein bißchen namedropping, aber mich würde interessieren, was du von dem letzten Buch von Theweleit, diesem Paare-Buch hältst.
DIEDERICHSEN: Meinst du das Buch der Könige oder Objektwahl?
FRAGE: Objektwahl. Als Theweleit in München daraus gelesen hat wurde er von den Leuten dauernd gefragt, ob denn die Liebe noch geht. Der mußte da den Lebensratgeber machen.
FRAGE: Nein hör auf. Das war eine zu traurige Geschichte. Das war ja fürchterlich.
DIEDERICHSEN: Außerdem ist natürlich genau das der Grund, warum die Sachen von dem so erfolgreich sind. Weil man sie eben so auch lesen kann.
Aber wie gesagt, von dem Buch der Könige habe ich eine Menge gehalten, weil es versucht Ausbeutung auf Bereichen festlegbar zu machen, wo bis jetzt kein Mensch von Ausbeutung gesprochen hat, sondern immer nur von persönlichen Beziehungen. Und das ist im Prinzip eine richtige Frage. Wiederum auch, wenn man sich dafür interessiert: wo kommen politische Subjekte her, wo kommt vielleicht eine Kulturarbeiterklasse her, oder so was. Was natürlich nicht mehr so eine monolithische Arbeiterklasse sein kann. Insofern denke ich mal, der ganze Forschungsansatz ist sehr gut.
Nur, daß das auch immer sehr persönliche, direkte beschreiben von seinem Privatleben und Privatleben die er kennt und das Wiedererkennen darin - was seine Generationsgenossen dann damit verbinden, also was die darin wieder erkennen - natürlich zu den ganzen Erfolgen führt, die er bei Leuten wie Antje Vollmer und Rudolf Augstein oder so hat, ist klar. Das ist natürlich eine Richtung, seine Sachen zu lesen, die ich nicht so interessant finde.
Greil Marcus
FRAGE: Greil Marcus sagt in seiner Secret History über sich als Historiker, daß er sozusagen die "besseren Mythen" schreiben will. Ist das für dich ein Vorhaben, wo du sagen könntest: Ja, da mach ich mit? Ist das eine Schreibposition, die du womöglich auch in SPEX gerne unterstützt haben würdest, mit dem Girlism-Beitrag zum Beispiel?
DIEDERICHSEN: Das ist eine superinteressante und auch problematische Position. Also Greil Marcus vermeidet einen grundsätzlichen Fehler, den alle Historiker von Bewegungen vorher immer gemacht haben: Er schreibt die Geschichte nicht vom Anfang bis zum Ende einer Bewegung, die ja immer im Scheitern endet. Woraus dann folgert, wieso sowas zum Scheitern verurteilt ist. Eben das kommt ja auch meistens bei solchen Historien raus und ermöglicht auch dem Autor sein eigenes Scheitern, bedingt in einer solchen Situation zu verklären. Und das macht Greil Marcus eben nicht.
Also er stellt in den Mittelpunkt, daß in allen möglichen Epochen bestimmte Dinge wieder auftauchen und daß das Wiederauftauchen, also der Triumph, die eigentliche, der eigentliche Fokus sein sollte.
Das Problem ist natürlich, daß dabei irgendwann natürlich Geschichtlichkeit vor die Hunde geht. Wenn du permanent ein Wiederauftauchen irgendwelcher Positionen, auch politischer behauptest, behauptest du gerade, daß diese Positionen nicht politisch sondern anthropologische Konstanten sind: Der Mensch muß halt gelegentlich mal auf die Kacke hauen. Also, das käme dann dabei raus, wenn man nicht durch irgendeine Hintertür die geschichtlilche Position wieder einführen würde.
Und dazu würde ich gerne mal in einem anderen Rahmen ein paar Vorschläge machen wie man mal das tun könnte.
Ein bißchen hab ich das versucht in dem Aufsatz Texte zur Kunst Band 2. Das war ein Aufsatz, ein Vortrag, der ursprünglich in Graz gehalten wurde, wo auch Greil Marcus anwesend war. Und wo ich gesagt habe, es lassen sich eben Konstanten, die man für anthropologische halten könnte als historische beschreiben. Wie zum Beispiel Arbeit oder Geld etc. Natürlich kann man sagen, Geld gibt es seit 630 vor Christi. Und das ist schon fast kein historischer Zeitraum mehr, sondern ein epochaler, oder ich weiß nicht was, wenn darauf mehr Gewicht gelegt werden könnte, daß und wie sich daraus auch die geschichtliche Dimension verändert. Also auch die Wiedergeburt von Johann von der Leyeden in Jonny Leyden.
Natürlich muß Markus in der jetztigen Situation erstmal auf die Gemeinsamkeiten hinweisen. Aber er müßte dann in einem zweiten Schritt sozusagen die geschichtliche Differenz einführen. Das könnte er ja auch. Das ist nicht ausgeschlossen bei diesem Ansatz. Und deswegen halte ich ihn auch für sehr fruchtbar. Nur er ist eben noch vervollkommnungsbedürftig.
TECHNO
FRAGE: Ausgehend von einer Grundforderung an Musik, daß sie auch immer mit einem gesellschaftlichen Draußensein verbunden sein muß, und sei es nur als symbolträchtiger Verweis auf die aktuellen Bedingungen ihrer Produktion, scheint Techno wirklich ein Problem darzustellen. Geschichtlichkeit ist ja in dem Sinne nicht mehr vorhanden.
DIEDERICHSEN: Ja, aber Techno hat seine Vor - und Nachteile. Wir haben gestern hier noch ziemlich lang darüber diskutiert. Der Punkt der daran natürlich beeindruckend ist und natürlich fasziniert ist: Daß da, wie übrigens vorher schon Acid House und vergleichbare Sachen, daß also die Verdinglichung von Musik abgeschafft ist, daß es keine Personen, Waren, Stars gibt. Die Schallplatten sind ja nicht dafür da, daß man sie zuhause auflegt. Das ist ja alles Produktion für Djs - das ist eine Bewegung, die sich nur über Events definiert.
Andere sagen: Sie können nicht mehr ertragen, was da für Leute sind. Sie können nicht mehr ertragen die Agressivität da, die reine wochenendventilartige Funktion, die das Ganze hat, daß das eben nicht mehr eine Sache ist, die das Alltagsleben umgestaltet von Leuten, ihre Lebensform, sondern die nur noch dafür da ist brutalomäßig um sich zu treten.
Wobei es natürlich wieder die vielen Feinunterschiede gibt: Technoparties, die damit nichts zu tun haben, mit diesen Beobachtungen. Aber es tendiert wohl ein bißchen dahin.
Problem viszerale Unterschiede zu bestimmen
FRAGE: In einer Inspiral Carpents Kritik stellst du als ein Kriterium bei der Beurteilung des weißen underground die Unverständlichkeit dieser musikalischen Form vor und schreibst über die Unverwertbarkeit dieser band für die Sinnmaschinerie.
Rave parties sind ja in England in den letzten zwei, drei Jahren extrem verfolgt worden. Die Leute sind da ja tatsächlich eingeknastet worden. Wo wäre - wenn man Techno und Rave jetzt nur mal auf der Ebene von Jugendkultur vergleicht - der Unterschied. Unverständlichkeit gegenüber der Sinnmaschinerie trifft als Begriff für die Ästhetik von Rave ja auch auf Techno zu.
DIEDERICHSEN: Ich glaube, da kommen wir genau zu dem Punkt. Das ist im Prinzip - wenn wir jetzt mit Rave nicht das meinen, was an Schallplatten dazu erschienen ist, sondern das was sozusagen davor gelaufen ist - das ist im Prinizp unter dem Aspekt, den ich vorher gesagt habe, nämlich Abschaffung von Verdinglichung, das gleiche. Nur: Es hat einen anderen Gegenstand und eine andere Umgangsform. Der tribe tat was anderes als der andere tribe. Und da wäre eben nun eine Bestimmung zu suchen für so eine Unterscheidung.
Die Unverständlichkeit und die Unzugänglichkeit für die Sinnmaschine ist die gleiche. Was aber tatsächlich passiert, ist jeweils was anderes. Und dafür Begriffe zu finden ist nicht leicht. Da gibts im Moment den gleichen backlash, wie es ihn immer schon gegeben hat, wenn man irgend etwas positiv bestimmt hat.
Wenn sozusagen von Aktivisten eine Nische, oder eine Lebensform oder Produktionsweise ausgekuckt, geschaffen und gesichert worden ist, wie zum Beispiel Platten auflegen, die sich immer wieder verändern, die es nicht zu kaufen gibt und wo es keine Stars gibt, dann wird das ganze gleich wieder von denjenigen oder den Verhältnissen besetzt, die durch nur diese Veränderung nicht abgeschafft worden sind. Das ist ganz klar.
Solche Sachen sind ja immer umgeben von - nach Debord - falscher Realität. Und die greift natürlich danach. Ich will nicht damit sagen, daß sowas damit schon am Ende ist, oder Tribalismen keine Möglichkeit mehr sind. Aber sie brauchen eine weitere Bestimmung.
FRAGE: Noch mal gefragt. Was wäre dann der Unterschied zu reinem Entertainment? Unverständlichkeit ist ja ein Begriff, der sich ausschließlich an Problemen der Kulturindustrie orientiert.
DIEDERICHSEN Das ist ja auch das Problem. Denn wenn ich sage, sie brauchen eine weitere Bestimmung, dann ist diese Bestimmung natürlich wieder etwas, das sich anhört wie ein Sinn. Aber es geht ja gar nicht um Sinn. Denn wenn wir jetzt den Unterschied machen zwischen enthusiastischen, euphorischen Arme-in-die-Luft-parties und aggressiven Parties, dann sind das ja keine unterschiedlichen Inhalte. Das läuft ja auf einer fast schon viszeralen Ebene ab.
Dieser Unterschied, und die Bestimmung, die man von außen in der Analyse macht, ist auch gar nicht mehr mit solchen Mitteln zu schaffen wie: Fortschrittlich oder rückschrittlich.
"funky"
FRAGE: Du überträgst dann ja auch auf Sachen wie den "groove" so was wie eine geschichtliche Aufgabe, Subversivität zum Beispiel. Im Bezugssystem von "vermarktet und geklaut". Kannst du anhand von bands oder bestimmten Entwicklungen in der aktuellen Musik sagen was das genau heißt?
DIEDERICHSEN: Was man sagen konnte, oder worauf sich das bezieht ist: "grooves" sind von allen Elementen von Musik am wenigsten Autor-bezogen und am wenigsten inhaltlich bestimmt. Aber sie haben natürlich trotzdem eine Wirkung und Bedeutung, die zu bestimmten Zeiten für bestimmte Leute klar ist.
Und dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Sie werden entweder entwertet, indem sie auf eine bestimmte industrielle Weise vereinfacht, verhunzt oder sonstwas werden und plötzlich in andere Bereiche vorstoßen. Und dann kann man sie sich zurück umcodieren. Das ist die ganze Geschichte von funky beispielsweise.
Da gibts ja viele interessante Stadien. Als zum Beispiel die englische new wave funkyness anfing, als bands, die vorher düstere Musik gespielt hatten auf einmal funky wurden, a certain (way of ?) funky wurden (, zu dem Zeitpunkt) war Funk aber ja in Amerika gar nicht mehr so viel wert für die Leute, für die ein funky groove mal was bestimmtes bedeutet hat zu einen bestimmten Zeitpunkt. Dann gab es plötzlich eine Wiederaneignung des funky groove durch diese ganzen New Yorker, Defunkt und solche Sachen, die lustigerweise zum selben Zeitpunkt stattfand wie die englische Aneignung. Und plötzlich bedeutete das wieder was anderes. Das sind solche Geschichten.
Die passieren nicht nur im Spannungsfeld zwischen den eigentlichen Besitzern und der bösen Kulturindustrie die das zerstört, sondern im Spannungsfeld zwischen allen möglichen verschiedenen denkbaren Besitzern, die was verschiedenes damit machen. Und das was sich dabei ergibt, was so was ist wie Bedeutung, aber eben nicht Bedeutung im Sinn von Semantik, sondern eine - naja subsemantische, was weiß ich - jedenfalls schwer zu bestimmende Art Bedeutung eben auch physischer Natur, das ist dann eben geschichtlich. Und dann kann man sagen. Zu dem und dem Zeitpunkt bedeutete das das und das.( Hegelsche Variante: dieses das und jenes, d. Skribent). Irgendwann gab es dann die Hip Hop Aneignung von Funk. Zwar hat Hip Hop sich auch immer funky genannt und funky ist ja auch ein allgemeinerer Begriff. Aber es gab einen ganz bestimmten Zeitpunkt, als plötzlich alle Leute anfingen James Brown zu sampeln und als alle irgendwann wieder damit aufhörten.
Verhältnis Kritiker zeitgenöss. Musik
FRAGE: Zwischenfrage. Kannst du dein Verhältnis zu diesem lauten Gewimmel der verschiedenen tribes, die sich in den von dir eben genannten Weisen äußern, beschreiben? Ist es ein kontemplatives, oder ..?
DIEDERICHSEN: Es tendiert dazu, immer kontemplativer zu werden. Immer dann, wenn ich denke, es ist nur noch kontemplativ, passiert irgendwas, was dieser Kontemplation ein Ende macht und eine stärkere Einbezogenheit mit sich bringt. Aber auch darüber hinaus gibt es diese generelle Tendenz. Sagen wir mal so. Das physische Affiziertsein davon nimmt stark ab.
Aber daraus kann man ja auch was lernen. Meine Begeisterung für Ragga muffin` - was eine Musik ist, die, weil sie doch zu abseitig ist, eigentlich nicht in der Gefahr besteht, im großen Maße kommerzielle Bedeutung zu bekommen und damit diesen ganzen Widersprüchen ausgesetzt zu werden - ist für mich dann so was wie ein Reservoir, in dem diese physische Seite weiter existieren kann, ohne daß ich diese anderen Probleme noch gleichzeitig damit hätte.
Das ist übrigens eine Entwicklung, die man häufiger beobachten kann bei alternden Rockkritikern.
Deren Begeisterung für Reggae ist ja geradezu ein historisches Phänomen. Rainer Blome, der erste Sounds Chefredakteur - er ist 74/75 ausgeschieden - ist danach mit ´nem soundsystem über die Lande gezogen. Oder nehmen wir Thea Schwaner. Es gibt so viele Leute bei denen der Versuch, sich diese Dimension zu erhalten, dann irgendwann zu Reggae geführt hat, oder zur afrikanischen Musik. Jetzt nicht als Exotismus, das ist es bei mir ja auch nicht. Sondern einfach weil man da ein Reservat hatte, wo die Erinnerung an die physische Seite des "groove" ungestört bleiben konnte. Also im Sinne dieser Idyllik, von der wir anfangs sprachen. Natürlich schon im Bewußtsein ,was das ist.
Sterben Alter Pop Ideen
SPEX - Rückzug
FRAGE: Also du gehst mit dieser dread beat night auf tour, und hast eben Reggae, in deinem Fall Ragga muffin` als den Alterssitz eines Rockkritikers angesprochen.
Du hast dich ja immer wieder mal eine Weile für Musik interessiert, dann wieder ne Zeit lang nicht. Dazu gibt es diese nette HüskerDü Anekdote. Kann man deine wechselnden Beziehungen zur Musik, das reine Interesse, das Scheitern eines Projekts, kein Interesse mehr und so fort, an konkreten Punkten festmachen? Wann hat es dir gelangt, daß deine Generationsgenossen gescheitert sind in ihrer Kulturarbeit.
DIEDERICHSEN: Also heute würde ich gar nicht mal sagen, daß die gescheitert sind. Also nicht viel mehr, als die Vorgängergenerationen auch. Außerdem. Das mit Reggae jetzt, das hab ich vorhin schon gesagt, das ist ein Reservat für eine ganz besitmmte Art sich für Musik zu interessieren.
Die HüskerDü Anekdote bezieht sich ja darauf, mit Musik alles mögliche zu verbinden, dann aber wirklich alles abzuziehen und dann plötzlich wieder alles mögliche. Das war ja noch so ein primäres Ergriffensein. Das war ja noch unabhängig von jeder Bezugnahme auf damit verbundene Projekte die gescheitert sein könnten. Beim Abziehen von Interesse schon, aber beim Wiederaufnehmen nicht.
Und in den letzten Jahren - da daraus mehr eine kontemplativ analytische oder sonstwie Haltung geworden ist - kann man mich nicht mehr so sehr enttäuschen.
FRAGE: Gelassenheit?
DIEDERICHSEN: Ja. Wobei ich speziell in den letzten drei Jahren nichts so gerne getan habe wie Platten hören und besprechen. Aber ohne damit soviel zu verbinden wie früher.
FRAGE: Wäre das ein Grund für deinen Rückzug aus dem Musikteil der SPEX?
DIEDERICHSEN: Ich zieh mich imgrunde genommen nur aus einem Teil der Musik zurück, nämlich dem, wo Interviews mit Musikern statt finden. Weil genau das ist es, was ich nicht mehr mag.
Das kann man nur dann tun, wenn man mit den Personen irgend was verbindet und glaubt die Personen stünden für das ein, was die Musik verspricht.
Meine letzten Artikel dieser Art sind dann auch so geworden, daß da nur zehn Zeilen Interview und sechs Seiten drumherum waren. Das war ja dann irgendwann nicht mehr haltbar in dieser Form Musikerinterview oder Spextext.
Plattenkritik, die sich nur mehr auf das bezieht, was ich mit dem Endprodukt anfange, oder was man mit dem Endprodukt anfangen könnte, geht ohne weiteres. Alles andere geht auch. Was nicht mehr geht ist dieses Musikertreffen.
FRAGE: Du warst ja auch sehr wichtig für den ganzen Rahmen, die Klammerfunktion, die SPEX gegenüber den verschiedenen Fraktionen von Subkultur über die diversen tribes hinweg mal hatte. Und aus der Rolle hast du dich ja zurückgezogen auf den Kulturteil?
DIEDERICHSEN: Ja. In dem Kulturteil wird ja auch nicht dazu Stellung genommen. Der versucht ja auch keine Klammer zu liefern, sondern das ist ja sowas wie eine kommentierte Literaturliste im Prinzip, nicht. Das ist der Versuch, Informationen kursieren zu lassen. Das ist ja kaum gefärbt von übergreifenden Erklärungen.
FRAGE: Die Frage ging eher in die Richtung, ob da wieder ein Punkt da ist, wo du dich zu Tode interessiert hast an der Sache.
DIEDERICHSEN: Nein, nein. Das ist es nicht. Der Grund, warum ich nicht mehr Redaktion hier mache ist ein anderer. Darüber haben wir vorher schon gesprochen. Das ist ganz einfach. Das wäre eben nur noch möglich gewesen, wenn ich alles, was mich sonst noch so interessiert dort mit integriert hätte. Das wäre aber zuviel geworden. Das war auch nicht mehr praktikabel. Ich habe dann für Artikel zu lange gebraucht.
So was, wie der Deep freeze mind-Artikel oder die Sachen in dem 100er Heft sind alle schon so wahnsinnig lang. Also gibt es nur die eine Konsequenz. Nämlich die Sachen da zu veröffentlichen, wo man länger schreibt und in größeren Abständen und so weiter.
FRAGE: Was damit jetzt wegfällt in Spex ist, so eine Art von historischer Musikbeschreibung, von historischen Aufladungen, wie das der Greil Markus zum Beispiel praktiziert, also bestimmte Ketten der Musik anfangen lassen. Das gibst nun nicht mehr zugunsten eines reinen Spezialistentums mit Ausnahmen wie Tekessides, bei dem dann Theorie...
DIEDERICHSEN: Genau , das ist ein gutes Beispiel, weil der nämlich das ja auch betreibt, aber eben von einer anderen Generationsperspektive aus.
FRAGE: Aber hier läßt sich ja der Vorwurf anbringen und von einigen Freunden habe ich den auch schon gehört, daß diese Art theoretisierender Musikkritik eben nur schlecht nachgemachter, rekonstruierter Diederichsen sei, also eben nicht das, was man hätte erwarten oder vielleicht wünschen können. Daß da nämlich ein jüngerer die Nachfolge antritt.
DIEDERICHSEN: Also so war das auch nicht gemeint eben und so was soll ja auch nicht sein. Ich will damit nur sagen, daß die Möglichkeit der historischen Aufladung ja nicht aufhört, wenn eine besimmte Generation weniger schreibt, wie Clara und ich.
Mittlerweise ist ja auch seit dem Einstieg derjenigen, die jetzt das Heft bestimmen, soviel Zeit vergangen, daß sich da auch wieder Zyklen gebildet haben, daß also auch ein bestimmtes Verständnis von der Sache da ist, das anders ist, als unseres damals. Und das wird sich auch irgendwie entwickeln. Marks Ansatz ist halt eine Möglichkeit. Aber da müßte man mit den Leuten selber reden.
FRAGE: Du selbst hast ja mal geschrieben, daß das Spezialistentum in eine Idyllik führen kann, die dann den Esoteriktod stirbt. Siehst du diese Gefahr heute noch?
DIEDERICHSEN: Ja, aber jetzt nicht unbedingt bei SPEX, sondern - und darauf war das damals auch bezogen - auf die Indiewelt. Und die Gefahr besteht ja auch tatsächlich. Das sieht man ja auch daran, was da alles Bankrott geht.
Auf der anderen Seite muß man natürlich auch sagen. Jedes Jahr in den letzten fünf Jahren gab es mehr Konzerte in Köln. Jedes Jahr werden es noch mehr und noch mehr und noch mehr. Und es kommen genug Leute hin. Eigentlich mehr als vorher. Also so stimmt das auch wieder nicht. Für eine bestimmte Art sagen wir mal stimmt es. Zum Beispiel für eine ganze Welt rund um die TV Personalities. Die ist ja genau so einen Tod gestorben. Einige wenige davon haben sich dann noch zu Rave hinübergerettet. Da hat noch so was überlebt wie die englische Popmusikidee. Und so was hatte ich mal vor Augen. Ich hab ja mal ein Buch angefangen mit einem TV Personalities-Zitat.
Popstandpunkt
FRAGE: Für diese Idee steht ja auch der Olaf Dante Marx mit dem du angefangen hast. Der fährt das Programm ja noch weiter mit seinen teilweise absolut rüden Attacken gegen Hip Hop. Gibt es da noch Gemeinsamkeiten. Kannst du dir vorstellen, daß er mal wieder für SPEX schreiben wird.
DIEDERICHSEN: Wir haben das ja versucht. Und es kam halt dieser Artikel raus, der in der 10Jahresnummer steht und den ich absolut unbefriedigend fand. Wo er seinen Widerspruch darüber versucht hat herzustellen, indem er sich einen Pappkameraden aufbaut, der Blödheiten oder Positionen rausläßt, die ja gar kein Mensch vertritt. Das ist ja gar nicht das Gegenüber, mit dem er sich streiten müßte.
Wir haben uns nochmal danach kurz getroffen, aber es ist ziemlich zwecklos geworden, da noch Verständigung zu schaffen. Ich habs oft genug, vielleicht zuwenig, aber doch ein paar Mal versucht, Ich denke, das hängt auch zusammen mit Verhältnissen in Hamburg.
FRAGE: Es sieht ja so aus, als ob es für Olaf Dante Marx Chartspop als unbekanntes Phänomen noch immer zu geben scheint. Ich erinnere mich an ein Ding in Tempo, da gings wohl um die Pet Shop Boys, das hat mich wirklich geschockt, der Text, vielmehr das um sich schlagen mit diesem längst in die Jahre gekommenen Pop-Programm.
DIEDERICHSEN: Ja, er stellt sich ja auch in diesem zuletzt für uns geschriebenen Artikel auf die Position, es sei ihm scheißegal, ob so eine Einschätzung zutrifft: Public Enemy gleich Heterosexismus. Das ist ihm einfach schnurz. Für ihn ist es halt so und verantwortlich darüber zu schreiben sei eh reaktionärer Scheiß - würde er nicht sagen - sei eh Scheiße und spießig. Was soll das, ich bin hier und amüsier mich und das ist sowieso die einzige Haltung, mit der man dem Geist von Pop gerecht wird.
Und solange es so ist, finde ich das auch vertretbar. Nur finde ich es nicht mehr verständlich, wenn man dann einer ganz bestimmten musikalischen Form, die einem wirklich nur dann Spaß machen kann, wenn man verbissen dahinter her ist, verbunden ist.
Was ich eben auch nicht verstehe und nicht gut heißen kann sind diese ganzen ad hoc Urteile über alles mögliche. Von Jimy Hendrix bis... Public Enemy kriegt dann noch einen Nebensatz ab. Und das ist ja auch alles immer falsch. Sachlich Quatsch. Also ich weiß nicht was das soll.
FRAGE: Das heißt, die Idee von Pop ist also für dich tot und also in Spex auch nicht mehr zu berücksichtigen. Oder das dazu passende Programm.
DIEDERICHSEN: Ich könnte mir vorstellen, daß man das interessant machen kann. Ich kann mir auch vorstellen, daß man mir diese Position nahe bringen könnte. So wie er das jetzt macht gelingt das nicht. Aber doch, ich könnte mir vorstellen, daß es diese Position geben könnte. Nur vertritt sie keiner vernünftig, oder will sie keiner hier vertreten.
Beziehungsweise Hans (Nieswandt) und Dirk Scheuring vertreten sie ja auch gelegentlich in Ansätzen. Die Belle 50 vogue-Kritik von Dirk ging ja in diese Richtung. Nur eben ganz anders als Olaf Marx das sieht.
Also ich sag nicht, daß diese Idee für immer verschwunden ist, aber mir ist sie auch nicht sehr attraktiv, weil ich diese ganze Musik einfach nicht ertragen kann. Weniger jetzt Chartspop. Das ist nicht das Problem, sondern die englische Melodieästhetik. Also das, was man in England seit Menschen gedenken für eine schöne Melodie hält, hat für mich an Verführungskraft doch stark verloren. Also habe ich auch wenig Lust mich damit zu beschäftigen.
Skeptiker Retro - Urteile
FRAGE: In deiner Konkret - Kritik von dem Hamburg Sampler wird ja dieser 82er Ästhetikaufstand abgewertet zugunsten einzelner Texte aus diesem Punksampler. Würdest du sagen, denn diese Bewertung ist ja retrospektiv, daß ähnlicheTexte, beispielsweise von diesen "Skepikern" aus Ostberlin, die heute das machen, was auf solchen Punksamplern zu hören ist, noch, oder wieder funktionieren können. Oder ist das positive Urteil über den brachial politischen Punktext nur ein historischer Nachtrag gewesen?
DIEDERICHSEN: Ja das ist eine Retrobeurteilung. Und ich würde ja auch nicht sagen, damals war ABC hören falsch. Wir hätten lieber slime hören sollen. Sondern ich sage: Natürlich ist das verständlich, daß man damals für ABC war. Aber man hat damit notwendigerweise das Richtige an slime vergessen, oder nicht mitbekommen. Man kriegt immer was nicht mit, was auch noch dazu gehört. Und so ist es natürlich auch in der Gegenwart.
Die Skeptiker sagen mir irgendwie nicht viel und es ist äußerst verständlich, warum die band so ist wie sie ist und sie ist möglicherweise auch lokal völlig in Ordnung.
Nur damals schon war es mir nicht möglich slime gut zu finden, oder mich für slime noch zu interessieren. Und es fällt mir heute noch viel schwerer dasselbe mit den Skeptikern zu tun.
Es ist natürlich genauso denkbar, daß ich in zehn Jahren sage, das war ein Fehler. Man hätte das damals schon hören müssen. Man hätte 91 die Skeptiker hören müssen. Das war die wichtige Stimme. Aber ich bin nun mal in dem Dilemma, daß ich verlange in irgendeiner Weise auch persönlich, sei es nun physisch oder intellektuell, angesprochen zu werden.
Journalistische Haltungen
FRAGE: Betreibst du eine Art persönliche Politik, insofern du dir überlegst und dich entscheidest in welchen Medien deine Texte erscheinen und in welchen nicht?
DIEDERICHSEN: Ja sicher. Bloß, das ist mittlerweile keine Politik mehr. Die Phase in der das eine Politik war, war vielleicht zwischen 83 und 87. Danach war das dann eh klar. Also in den ersten drei Jahren hat TEMPO immer noch mal gefragt. Aber jetzt fragen die auch nicht mehr. Höchstens mal, wenn ein neuer Redakteur kommt, der das noch nicht weiß.
Eine andere Sache ist, daß ich eine Zeit lang gedacht habe: ganz streng beschränken. Das denke ich heute auch nicht mehr. Ich habe nichts dagegen hier und da zu erscheinen. Bloß eben in bestimmten Sachen nicht.
FRAGE: Daß du im SPIEGEL seit längerer Zeit keinen Text veröffentlicht hast ist Zufall?
DIEDERICHSEN: Ja und nein. Also ich hatte ja einen 89 noch mal, oder 90, ich weiß gar nicht so genau wann das war. Über Madonna. Das lag daran, daß da plötzlich wieder einer da war beim SPIEGEL der inzwischen auch wieder nicht mehr dort ist, der die Zerwürfnisse, die in den mittleren 80ern gelaufen sind nicht mitbekommen hat.
Und es hat halt soviel Streit gegeben, daß es inzwischen schon egal ist.
JÖRG SCHRÖDER
FRAGE: Dazu gibts ja auch eine nette Schröder-Geschichte. Hast du Lust uns die von deiner Warte aus zu erzählen?
DIEDERICHSEN: Welche Schröder-Geschichte?
FRAGE: Na die Sache mit der bestellten und im SPIEGEL nie gedruckten Mamut Rezension.
DIEDERICHSEN: Ja gut, das ist eben eine typische Schröder-Geschichte. Ich habe damals eine Mamut Rezension geschrieben und Rainald Goetz hat auch eine geschrieben und die sind beide nicht gekommen. Redakteur war seinerzeit der berühmte Schultz-Gerstein.
Schröder wittert dahinter natürlich eine groß angelegte Verhinderungsaktion. Ich kann es nicht beurteilen. Ich glaube normalerweise nicht an so was. Ich denke, daß das alles viel schoofler funktioniert. Auf der anderen Seite. Wenn man viel Schröder liest, dann bekommt man natürlich auch wieder das Gefühl, der hat vielleicht doch recht mit all seinen Verschwörungstheorien.
FRAGE: "Verschwörung" ist bei Schröder ja immer nur Bestandteil einer die Verhältnisse charakterisierenden Geschichte. Die muß ja nicht der kausale Grund für die Verhinderung gewesen sein.
DIEDERICHSEN: Ich meine Schröder beschreibt das schon so, oder hat es mir gegenüber mal so beschrieben, als wäre es tatsächlich so: Die SPIEGEL Chefetage will nicht, daß ein Text über ihn drin steht und dann wird das verhindert. Und Schultz-Gerstein hatte nie die Traute sich dagegen zu stellen und war da die kleine Nummer. Also das ist schon eine These, wo er sich das also ganz verschwörungstheoretisch vorstellt. Und vielleicht ist es ja auch so. Man hat da ja schon einiges erlebt und Pferde kotzen sehen.
Aber wenn du jetzt sagst, Verschwörung muß nicht so was sein, dann fällt mir gerade ein - und damit käme man zu Hip Hop zurück - es ist ja in den ganzen USA in der schwarzen Bewegung immer diese Theorie, es gäbe eine weiße Verschwörung via AIDS und Drogen wie Crack die Schwarzen auszulöschen. Und da lacht man sich ja auch immer kaputt, denn so ist es natürlich nicht. Aber Harry Allen hat gerade in der Zeitung Sun City was ganz interessantes gesagt, was heißt interessant, es ist ja imgrunde nahe liegend: Verschwörung ist natürlich nicht eine mad scientist Sitzung unter irrem Gelächter und batman-Figuren in einem dunklen Raum mit einer Glühbirne die sich da überlegen: "...so jetzt werden wir mal mit AIDS...", sondern es ist natürlich einfach Koinzidenz. Koinzidenz von verschiedenen Aktivitäten. Da muß man nicht unbedingt ein gemeinsames Subjekt rekonstruieren.
So gesehen stimmts natürlich, denn über diese neuen Schröder Bücher schreibt ja auch kein Mensch. Das ist ja wirklich interessant. Da ist ja einiges los. Und kein Mensch schreibt darüber. Du liest nirgendwo was.
FRAGE: Es gibt schon ein paar Artikel. Also eine ziemlich blöde Rezension in Vogue gabs mal und Schröder selbst redet von ´ner dicken Jubelmappe mit FAZ und taz und -
FRAGE: Wobei du aber auch sagen mußt, daß der Schröder damit nur Ankündigungen seiner Lesungen meint, darüber hinaus sich nicht groß um PR kümmern und mit dem liberalen Feuilleton eh nichts mehr zu tun haben will.
DIEDERICHSEN: Ja ich wollte ja auch seine Verfolgungsvorstellungen stützen, indem ich sage: Ich habe nicht gesehen, daß an irgend einer prominenten Stelle über diese Sachen was steht, obwohl es doch nun interessant ist.
Selbst im Sinne von "eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus", was da an Enthüllungen über Augstein, Springer etc. drin steht, könnte ja die jeweiligen Gegner interessieren. Da könnte ja die BUNTE Illustrierte oder wer auch immer ein Feind von Augstein ist, könnte ja sagen: "Hier: Augstein!, interessante Geschichte, gutes Buch." Oder umgekehrt. Aber das passiert eben nicht, weil da von der ganzen Sache her schon klar ist, daß sich das gegen alle richtet. Und auch in konkret stand darüber noch nichts.
FRAGE: Schröder meint halt, das dauert eben immer eine Weile, bis sich das, was er erzählt umsetzt, bis die Geschichten durch die ganzen Medienschaltstellen durchgesickert sind und einer dann mal irgendwann glücklicherweise, oder zufällig wirklich schaltet und es dann knallt. Also so eine Kairos-Sache.
FRAGE: Im Fall von Konkret hat er ja gesagt, er sollte einen Beitrag für das Gremliza Geburtstagsbuch schreiben und dafür wollte er natürlich eben auch Kohle haben. Und dann haben sie ihn halt nicht mehr angerufen und er bekommt jetzt keine Konkret mehr umsonst. Der Amendt sei halt drinn, und der kommt halt auch vor in seiner Springer-Geschichte.
DIEDERICHSEN: Aber doch jetzt in der ganz neuen erst. Die Sache mit dem Jubelbuch für Gremliza war ja viel früher. Haha .Ja ja.
FRAGE: Nein, zu Amendt sagt Schröder ja nur, daß seit die Folge, in der Amendt vorkommt draußen ist, er kein konkret mehr freihaus bekommt. So billig läuft das.
DIEDERICHSEN: Auf der anderen Seite. Was mich halt immer bei aller Begeisterung an der Sache stört, was mich unbefriedigt läßt, ist, daß alles an Charakteren ausgetragen wird, die im Grunde genommen gar nichts mehr zu sagen haben, oder kurz davor sind, nichts mehr zu sagen zu haben.
Das ist auch schon wieder Vergangenheitsbewältigung. Springer ist tot. Augstein wird es auch nicht mehr allzu lange geben und das was auf niedrigerer Ebene verhandelt wird, Schultz-Gerstein zum Beispiel, das sind ja alles auch tote Leute oder Leute, die ihre Bedeutung in dem Kontext, in dem Schröder sie beschreibt längst nicht mehr haben. Es wäre wirklich klasse, wenn es da mal den Anschluß an die Gegenwart gäbe. Es gibt bestimmt aus den Redaktion und Verlagen der 80er Jahre eine Menge zu erzählen.
FRAGE: Schröder hat das ja angekündigt.
FRAGE: Eine Goetz-Geschichte.
FRAGE: Du hast in Swoon einmal vor Jahren gesagt - da war die Frage was du dir vorstellen kannst weiter zu schreiben -Kunstkritik.
Ist es für dich heute noch ein interessantes Gebiet: Kunst, Kunstkritik?
DIEDERICHSEN : Das ist noch ein interessantes Gebiet. Aber nicht mehr, als es damals war. Also das tu´ ich ja auch. Aber ich schreibe nicht über Ausstellungen, selten über einzelne Künstler.
FRAGE: Du hast mal in einer Besprechung von Koons und Kippenberger mit dem lustigen Satz abgeschlossen, daß es das, was auf den Bildern zu sehen ist, "wie immer bei mir nicht zu lesen gibt".
DIEDERICHSEN: Genau. Denn das ist halt immer der ewige Konflikt hier mit den Kölner Kunstkünstlern: "Du siehst dir die Bilder nicht an!" "Nein, ich seh mir die Bilder nicht an!" Und genau so iss es.
Weil da gerade wieder so was gelaufen war, hab ich den Satz darunter geschrieben.
FRAGE: Also war das ne reine polemische Spitze und kein kleiner Aphorismus, in dem sich, wie in ner Nußschale so was wie ein Konzept verbirgt?
DIEDERICHSEN: Nein, es ist ja tatsächlich so. Ich meine, ich schreib ja seit Jahren über Kunst, ohne daß ich über Bilder schreibe oder – Kunst besteht ja nun nicht nur aus Bildern – ohne daß ich jetzt das, was der Maler oder was auch immer da wirklich tut, oder seine Sensibilitäten und seine Verweise etc. mich groß interessieren. Ich meine, man könne da auch anders drüber schreiben.
Also das letzte was ich da gemacht habe, war ein Interview mit Hans Peter Zimmer, einer der Mitbegründer der Gruppe Spur, der auch kurz mal bei den Situationisten Mitglied war, mit den ganze Spur-Leuten zusammen zwischen 58 und 61. Und das waren dreißig Seiten Interview wo kein einziges Mal von Bildern die Rede war. Bei ihm schon mal. Er ist ja schließlich Maler. Aber das geht, nicht wahr.
FRAGE: Ja mit mir gibt es da auch kein Problem.
FRAGE: Also dann gehts in die Richtung Texte zur Kunst. Wenn, dann also für die arbeiten.
DIEDERICHSEN: Ja es gibt viele Gemeinsamkeiten mit "Texte zur Kunst". Vor allem die ganze Orientierung an amerikanischen Aktivismen, die auch hier ziemlich unbekannt sind. Und das mit bekannt zu machen, da bin ich mit denen dabei. Aber ansonsten. "Texte zur Kunst" schließt ja nicht aus über Bilder zu schreiben. Es gab ja, das war fast schon wieder eine Parodie davon, ich glaube in der ersten Nummer von T.z.K. so zehn Zeilen Text von Michael Krebbe über Baselitz, wo er eben wirklich darüber schrieb, was auf den Bildern ist. Also so was machen die auch.
Ich hab auch nichts dagegen, weil irgendwelche Aussagen, die durch meine Art von Kunstbetrachtung gemacht werden, sind dadurch nicht relativierbar oder zu entkräften.
Und das ist es auch, worauf das Koons/Kippenberger-Ding abzog, indem ich sage, da kommt nicht vor, was auf den Bildern drauf ist, was natürlich bei Koons und Kippenberger wirklich dann – es ist zwar nicht egal, was da drauf ist, aber wie die das meinen, die Handschrift etc. ist ja wirklich egal.
FRAGE: Man könnte sich zu dem kleinen Satz ja tatsächlich einen Standpunkt ausdenken. Die folgende Forderung hast du ja in deinem Todesblei-Artikel nach dem Mauerfall zitiert: Anamnese der Genese!, wobei der Witz in der Kunstkritik der wäre, daß man sich die Genese erfinden muß, weil es keine äußeren sichtbaren Zeichen von Geschichte mehr gibt. Oder als Frage formuliert: Ist es nicht völlig egal, ob es den Gegenstand, der da beschrieben wird, überhaupt noch gibt?
DIEDERICHSEN: Nein und dann doch wieder ja, insofern es darum geht: Hat eine Gruppe oder haben wir ein Interesse ihn zu rekonstruieren? Und das ist der entscheidende Punkt. Also: Gibt es ein Soziales das ihn braucht? Wenn ja, wie machen sie das, wie gehen sie damit um? Und dann Kategorien finden, ob es dafür ein richtig und ein Falsch gibt im Umgehen und bei der Konstruktion.
Aber im Prinzip ist es dann wirklich egal, ob es die Gegenstände gibt, ja.
FRAGE: Läßt sich das Prinzip in deinem Fall auch als Schreibposition radikalisieren im Sinne von: "Ich schreibe diese Form der Kunstbetrachtung fort, auch wenn der Gegenstand nur mehr durchs Schreiben entsteht, oder in einem so realisierten Programm entwickelt wird?"
DIEDERICHSEN: Ja da habe ich die Antwort schon gegeben. Wenn das Interesse besteht. wenn es eine Gruppe gibt, die das lesen will, die ein Programm haben will, dann ist es egal, ob es ein Lagerfeuer gibt, um das sich das gruppiert. Solange sie ein Lagerfeuer haben wollen, kann man auch von einem Lagerfeuer erzählen. Das ist ja auch der eigentliche Austausch, den man mit der Gruppe hat.
FRAGE: Das wäre die nächste Frage. Hast du einen bestimmten Adressaten, brauchst du keinen, oder ist das für dich im Moment keine Frage?
DIEDERICHSEN: Weiß ich nicht. Doch, ich glaube, ich habe einen Adressaten, wie wir eben schon anläßlich dieser Koons/Kippenberger-Geschichte festgestellt hatten. Das sind halt irgend welche Leute, die irgendwas dazu gesagt haben.
Bei Zeitschriften ist das anders. Also bei Konkret ist es so, daß ich an die Leute denke, die da sitzen.
FRAGE: An den Piwitt?
DIEDERICHSEN: Nein an Piwitt denke ich nun bestimmt nicht.
Der Piwitt
FRAGE: Ist das eine Hassfigur von dir? Wenn ich an deine 1500 Plattenkritiken denke. Da kommt der als typischer linker Feuilletonist vor..
DIEDERICHSEN: Ja das ist schon ne Art Hassfigur, weil ich das einfach so grauenhaft finde, diese Haltung, diese selbstgefällige Altmännerhaltung, die der hat, und dann daraus auch noch jetzt seit einiger Zeit so was wie Radikalität. Unglaublich harte Verdikte und dann aber wieder so schleim schmier sich in der eigenen Sprache suhlen und toll finden, wie man so schreibt. Das finde ich also nun grässlich.
Den Typen kenne ich gar nicht. Ich weiß auch gar nicht, ob der vielleicht ein netter Mensch ist. Das gibt es ja öfters, daß Leute, die echt schlimme, ganz schlimme Texte machen in wirklichkeit ausgesprochen freundliche Leute sind. Aber so wie der aussieht, scheint mir das ein und dasselbe zu sein.
Aber um auf die Adressatenfrage zurückzukommen. Ich meine natürlich die Leute, die das bearbeiten. Die, mit denen ich telephoniere bei konkret. Das sind eben Wolfgang Schneider oder Hermann Gremliza. Neuerdings haben sie noch einen anderen da. Mit denen redet man natürlich auch über Texte. Und an die denkt man, wenn man schreibt.
Also ich schreibe eigentlich immer erst mal so drauf los. Dann, wenn man etwas geschrieben hat schaut man es sich an und wenn man über einen Gegenstand schon mal mit irgendwem anders geredet hat, dann kann man natürlich immer gut kucken, was würde der jetzt dazu sagen. Das ist auch noch so ne Möglichkeit.
FRAGE: Aber da gibt es redaktionell keine Schwierigkeiten. Ich erinnere mich da an eine Napalm Death Kritik in konkret. Also daß so was durchgeht...
DIEDERICHSEN: Ach so. Doch, durchgehen tut da alles.
Dissidenz
FRAGE: Kommen wir nochmal zu einem Begriff: Dissidenz. In den Texten ist "Dissidenz" nicht sozial verankert. Für mich hat sich der Begriff immer nur als theoretisches Konstrukt dargestellt.
DIEDERICHSEN: Das war ja auch nur der Versuch, ein Wort zu finden für Leute, die mit ihrer Umwelt, ihren Lebensbedingungen nicht einverstanden sind, obwohl sie keinen primären Anlaß haben - weil sie massiv in ihren Chancen beschnitten wären. Leute, die alle Chancen haben: Was haben die für Gründe (zumindest vorzugeben), Außenstehende zu sein. Um das mal zu unterscheiden von denen, die jeden Grund dazu haben, der leicht einsehbar ist.
Dieses Wort - das mir langsam auch wieder zum Halse heraushängt, aber ohne, daß es dafür einen bestimmten Grund gäbe - wurde ja ursprünglich einmal benutzt für abweichende Meinungen im realen Sozialismus. Immer davon ausgehend, daß der reale Sozialismus keine Unterschiede zuläßt, sondern totalitär nur eine Position erlaubt. Ich habe dieses Wort gewählt, weil es das Ideal einer solchen Position sein müßte, demjenigen zu Ausdruck zu verhelfen, das auch hier nicht zugelassen wird.
Dreadbeat
FRAGE: Du hast vor zwei, drei Monaten in einem Text in Spex über einen Abend in München geschrieben, den ich etwas rätselhaft finde.
DIEDERICHSEN: Ja, Friesenwall 120 hieß der.
FRAGE: Ja
DIEDERICHSEN Rätselhaft? Was ist die Frage? Worum es da ging, oder was?
FRAGE: Nein, meine Frage wäre nach den bestimmten Personen, zum Beispiel Maxim Biller. Warum die dort vorkommen
DIEDERICHSEN: Ja die gehören halt auch dazu. Die Geschichte ging eben über den Friesenwall 120. Das ist so ein Kunstaktivistenversuch hier in Köln, der halt schon eine Weile läuft, den wir auch schon in SPEX erwähnt haben. Und der tritt halt hier zum ersten Mal nach außen. Jetzt testen wir das und wollen mal sehen was da raus kommt.
Dann bin ich auch noch selber involviert, indem ich da eben Platten auflege. Dann ist da auch noch dieser Dachs, der Mäzen mit seinem Porsche Geld. Und das ist ja auch so eine Sache, daß da die Galerie Nagel, die so das innovativste hier am Platze ist, mit dem zusammen arbeitet, was imgrunde genommen von aller Welt als ein großer Segen gewertet wird für die Galerie. Weil da eben überaus fortschrittlich.... und keine Ahnung..., also diese ganzen Sachen kommen da eben zusammen. Und dann zur selben Zeit betreibt Hilka Nordhausen, die sozusagen in Hamburg in den siebziger Jahren eine ähnliche Rolle gespielt hat, Vergangenheitsbewältigung. Es gab ja dieses Buch von ihr und dann dieses Interview, auf das ich da in dem Text Bezug nehme.
FRAGE: Auf was die Frage womöglich hinauslaufen sollte, war eine feine womöglich melancholische Polemik, die der Text transportiert. Wir hatten jedenfalls den Eindruck, daß du als DJ da eine Rolle spielst, die dir vielleicht nicht hundertprozentig paßt.
DIEDERICHSEN: Die zumindest ausgesprochen kurios ist. Aber das war von Anfang an ja klar, daß das eine ganz kuriose Geschichte wird.
Eine der Ideen zu dieser Veranstaltung war ja, Kölner Insitutionen, in diesem Fall diese Dreat beat Geschichte, was ja hier alle 14 Tage seit nun mehr drei Jahren statt findet, dahin zu transportieren. Daß das schließlich eine leicht eigenartige Angelegenheit ist, war klar. Das gehört ja mit zum Friesenwall Konzept, so was zu machen. Dazu gehört dann auch fast schon zwingend, zu beschreiben, wie das wirklich war.
Und dann war es so, daß diese Seltsamkeit in bestimmbare Einheiten zerfiel. Nämlich erst mal diese komische Jugendarbeit, die die da machen wollten und auch gemacht haben und dadurch ein Publikum da ist. Dann eben die konventionelle Kunstwelt und schließlich Leute, die tatsächlich damit zu tun haben und normalerweise auch zu dreat beat kommen würden. Und dann plötzlich das Abbrechen um 12 Uhr aus sonstwie Gründen.
Das alles zusammen schien mir einfach kurios genug um es mal zu beschreiben. Auch eben als Momentaufnahme von so einer Art künstlerischer Praxis.
Und daß dann hinterher immer in München dazu gehört, daß man da ins alte Babalu oder ins neue Babalu, oder in beide geht, und dann eben die Leute trifft, die man in München kennt. Und zwar so verschiedene wie Maxim Biller und Stephan Gehne(?), die aber zusammen kommen in diesem Moment.
Ich hätte wirklich gerne gehabt , daß die sich länger unterhalten hätten, weil ich das wirklich gerne hören würde weil da sicher Konflikte ausgetragen werden, die ich gar nicht austragen könnte, weil ich sie gar nicht hätte. Aber ich kann mich mit Maxim Biller unterhalten ne Weile. Und ich kann mich mit Stephan Gehne sehr gut unterhalten. Und gerade die Rigurousität, die Stephan Gehne vertritt hätte ich da gerne länger noch sich mit Maxim Biller auseinandersetzen lassen. Und von Maxim Biller weiß ich, daß er gerne provoziert und das wäre sicher schön gewesen. Also das ist noch das typische Lokalkolorit, das da noch dazu kommt. Und so entsteht daraus ein Artikel.
Münchner Sozialcharakter
FRAGE: Wo doch der Biller eher fast schon für so einen bestimmten Münchner Sozialcharakter steht, von seinem Auftreten, seiner Entschiedenheit und seiner bestimmten Haltung her.
DIEDERICHSEN: Ich kenn ihn nicht so genau. Ich kenn halt nur seine Texte und ihn relativ flüchtig. Jemand anders, auch aus München, hat mich auch schon mal darauf hin angesprochen. Der hat dann gesagt, er könne eben auch beide verstehen, weil er eben beide Positionen, die auch beide typisch münchnerisch wären, schon durchgemacht hätte. Nämlich die, das sozusagen mitzumachen und zu übertreiben oder was auch immer, und die, davon angewidert zu sein.
FRAGE: Ich fand ja dieses Biller Buch gut, wenn ich es beispielsweise mit Konkret Artikeln verglichen hab.
DIEDERICHSEN: Welche Konkret-Artikel denn? Du meinst Tempo Artikel
FRAGE: Ja, ich meine die Rolle, die zum Beispiel Semitismus in den Erzählungen spielt, wie er das nutzt, und wie das in der Diskussion verwertet wird.
DIEDERICHSEN: Ich habe das Buch zwar nur flüchtig überflogen, aber das ist schnurrig, pfiffig erzählt.
Deutsche Literatur
FRAGE: Wir haben diesen einen Text von dir, "Drei Dramen vom Grill" von Kiepenheuer & Witsch bekommen. Ich dachte zuerst, daß es so eine Resteverwertung wäre. So ein typischer 80erJahreBerlinDissen-Text und hab mich dann also gefragt, warum du die Form - also reale Personen im Drama auftreten zu lassen - jetzt noch benutzt hast. Ich weiß ja nicht in welchem Zusammenhang das Buch steht.
DIEDERICHSEN: Ja also die Form mit den realen Personen hat nichts mit "noch" zu tun, denn die hab ich ja so noch nie verwendet. Reale Personen in einem Drama, was sich als Drama ausgibt aber kein Drama ist, als Kalauer anzubringen. Da ist dann die Dramenform auch zitiert worden. Ist auch im Grunde nur insoweit eingehalten, als Akte und Szenen vorkommen und am Anfang Dramatis Personae.
Und was den Eindruck betrifft, es handelt sich um Resteverwertung - das ist schon richtig. Es ist Resteverwertung. Bloß nicht aus den 80er Jahren, sondern von Anfang 1990 ist der Text, geht auch zurück auf Eindrücke von Februar/März 1990 und entspricht auch dem was die Stadt betrifft. Ich bin vollkommen einverstanden mit dem Text. Nur. Er trifft nicht mehr auf die Zustände vom Herbst 91 in Berlin zu. Das auf jeden Fall.
Epochenwandel - Was für´n Körperteil war Berlin?
FRAGE: Steht das eigentlich in Zusammenhang zu den Kiepenheuer & Witsch Epochenbänden "Wie reagieren junge deutsche Autoren auf die Wende"?
DIEDERICHSEN: Da gab es ein Rundschreiben. Aber ich weiß nicht, ob ich darauf reagiert habe. Nein. Der Text war vorher schon fertig. Der war für einen ganz anderen Anlaß geschrieben. Und wie gesagt, ich hab mich auch bemüht, als ich dann aus Recherchegründen nach Berlin gefahren bin, einen anderen Eindruck zu gewinnen. Ich denke auch, da ist auch ein grundsätzlich anderer Punkt drin, im Vergleich zum Berlin-dissen der mittleren 80er.
Es gibt ja lustigerweise drei oder vier Haltlungen zu Berlin, die kursierten, die ich kenne und mitgemacht habe.
In den frühen 80ern keineswegs ein Dissen. In den frühen 80ern hat man ja Berlin teilweise - zumindest was bestimmte Aspekte der Nischenentwicklung anbetraf - durchaus auch begrüßt. Also Aspekte von Häuserkampf oder in der Musikentwicklung.
Dann gab es die sichtbare Institutionalisierung des Ganzen. Und genau dieser Aspekt Berlins wurde zum Exportschlager und Tourismusmagnet bis in die Berlinwerbung hinein.
Und dann die dritte Position, die ich versuchte, mir da zu erarbeiten, ist ja eine, die anläßlich der Wiedervereinigung versucht etwas herauszuarbeiten, was an Berlin konstant ist, was über diese Westberliner Kulturepoche hinausgeht. Und sozusagen so etwas wie das Preußische erstmal wahrzunehmen. Und das war vorher nie ein Thema.
Vorher wurde Berlin immer gesehen unter dem Aspekt: was macht hier sozusagen die Rest-BRD, wie schafft sie sich da ein Ventil, Wurmfortsatz - was auch immer? Auch wenn man den Staat als Körpermetapher sieht: Was für ein Körperteil war Berlin?
Und das ist in dem Text nicht der Fall. Darum geht es ja nur einmal kurz in einem Rückblick. Aber ansonsten geht es ja darum, was entdecke ich jetzt an preußischen Konstanten in beiden Teilen.
FRAGE: Du meinst Berlin als das bedeutungslose Feld, das dir schon vor Jahren auf Immendorf-Bildern vom Brandenburger-Tor gefallen hat?
DIEDERICHSEN: Ja. Aber von 1991 aus. Da ich in letzter Zeit wieder so oft da war und wahrscheinlich wieder was drüber machen werde, würde ich jetzt noch eine vierte Position einführen wollen: Also die Unfähigkeit Berlins sich zu repräsentieren, die mir als Konstante in dem Text auffällt, sozusagen eine Einladung darstellt. Und daß da tatsächlich ein Wandel im Gange ist, der sich nicht reduzieren läßt auf Wiedergeburt von irgendeinem Alten. Sondern ein wirklicher Wandel, der auch nichts zu tun hat mit "Jetzt-kommt-der-Osten-da-rein", sondern in jedem Sinne des Wortes jede Menge Räume offen stehen und der Nutzung harren.
Wobei ich jedoch keineswegs besonders optimistisch bin darüber. Auf jeden Fall kann man das mal konstatieren, daß da mal was anderes gewachsen ist.
FRAGE: Interessiert dich das weiter? Auch nach dem eben erwähnten Text?
DIEDERICHSEN: Ja sicher. Das ist das, was ich jetzt sage. Der Text ist ja alt. Der ist ja von 1990, wie gesagt. Und ich habe ihn überarbeitet ohne in Berlin gewesen zu sein 1991. Dann abgegeben. Und bin jetzt im letzten halben Jahr ziemlich oft da gewesen. Wobei ich jedoch froh bin, den so geschrieben zu haben. Um das mal dokumeniert zu haben.
Wichtig ist noch eine Sache, In dem Berlin-Text ist ein Fehler drin, den ich noch korrigieren muß, nachdem ich das in dem Text nicht mehr geschafft habe. Es ist natürlich nicht so, daß Oswald Wiener die "Paris Bar" begründet hat, sondern das "Exil".
FRAGE: Kannst du Dir vorstellen auch einmal anders über Berlin zu schreiben?
DIEDERICHSEN: Ja, hab ich ja schon gesagt.
FRAGE: Du hast es revidiert. Aber könntest du dir vorstellen, diese Zeichenanalyse der Stadt, die sich selbst nicht repräsentieren kann, noch weiter zu verfeinern?
DIEDERICHSEN: Ich kann dir eines erzählen: Als ich das letzte Mal in die "Paris Bar" kam, saß da nicht Syberberg, sondern Cecil Taylor. Vielleicht ist die Frage damit beantwortet.
FRAGE: Gut. - War das jetzt eine Anekdote?
DIEDERICHSEN: Das ist die Wahrheit. Aber das andere war ja auch die Wahrheit. Insofern wird das schon was zu bedeuten haben.
FRAGE: Es könnte ja auch eine trügerische Wahrheit sein. Da sitzt Cecil Taylor nun in Berlin in der Paris Bar und nicht der Syberberg, aber abseits dieser Idylle meldet sich politische oder soziale Praxis auf eine Art und Weise... -
DIEDERICHSEN: Ach, daß ich darüber mal schreiben könnte. Jetzt verstehe ich. - Ich glaube nicht, daß ich davon wegkommen werde, wegkommen kann, solche Sachen anhand ihrer kulturellen Symptome zu sehen. Ich glaube nicht, daß ich mit einer Art der Recherche oder Wahrnehmung beginnen könnte, wie sie ein Sozialjournalist hat. Es werden weiterhin Erfindungen und kulturelle Symptome sein, aufgrund derer ich zu Ergebnissen komme. Zu anderen Ergebnissen in jeder Hinsicht - und damit auch über Deutschland.
FRAGE: Vor dem Hintergrund, daß kulturelle Symptome gemacht werden und auf Subjekte und ihre Produkte zurückführen, könnte man dir erst mal den schlichten Vorwurf machen, daß du mit dem Text dem Berliner Senat Vorschub leistest in seinem Bestreben aus der Stadt mal eine Metropole zu machen.
DIEDERICHSEN: Du meinst: Wenn man fehlende Repräsentation vorwirft, sagt man "Schafft Repräsentation!".
FRAGE: Nein. Ich meine, auch wenn es eine noch so pittoreske Peripherie ist, man hängt doch auch dort an dieser Bewegung hin zur Nation, die sagt: "Um Deutschland sollten wir uns kümmern".
DIEDERICHSEN: Ich habe ja gesagt, wo der Versuch nur hinführen kann, da aus dem Vorhandenen das Nationale abzuleiten. Ich habe mich nicht mit dem Problem beschäftigt, was richtig wäre. Das ist halt ein deskriptiv-lakonischer Text.
Um diese Aufgabe (was richtig wäre) hat er sich gar nicht gekümmert. Das fand eher in diesem - Weihnachtsbeilagen-Text hätte ich fast gesagt, in "Todesblei" statt, der vom selben Thema handelt und auf die selbe Berlinreise zurückgeht. Da steht das schon drin, die nationale Frage.
Im Übrigen: Ich komme gerade aus der Buchhandlung und hab mir gerade den neuen Pfahl (?) von Matthes & Seitz gekauft - also das geht da weiter, glaube ich.
MYTHEN/GIRLISM
FRAGE: Was mich da noch interessieren würde: Als Gegensatz zum Jounalismus Mythen schaffen, wie das Marcus Greil sagt. Das habe ich in dem Girlism-Kontext und dem Doors-Artikel wiedergefunden. Viele Mädchen, denen ich diese Girlism-ding geschickt/gegeben habe, waren empört, daß da so eine geschlossene Identität geschaffen wird.
DIEDERICHSEN: Das ist auch ein Problem. Hier ist das relativ freundlich aufgenommen worden, weil da natürlich auch eine gewisse Ironie drin war - das politische Subjekt "Girl". Das ist ja ein Euphemismus. Aber das spielt sich ja insofern auf einer mythologischen Ebene ab, als daß die ganzen Bands und Einzelfiguren, die da zusammengestellt werden, so einen Mythos ergeben. Aber die Idee dabei, glaube ich, ist nicht die, andere oder bessere Mythen zu schreiben, sondern einen schiefen, aber irgendwie plausiblen und Begriffe bildenden Blickwinkel an Musik zu legen, der nicht nur eine Band ist, oder ein Trend, sondern etwas Übergreifendes.
Bei den Doors weiß ich nicht, was du meinst. Das war ja eher persönliche Geschichte. Aber bei "Girlism" stimmt das schon. Im Übrigen habe ich das nicht allein geschrieben. Das war eine Gemeinschaftsarbeit, da haben sechs, sieben Leute daran herumgeschrieben.
FRAGE: Ich meine den Einleitungstext.
DIEDERICHSEN: Auch der ist nicht allein von mir. Auch da haben verschiedene Leute daran gearbeitet. Der Einleitungstext stammte von mir und Hans in erster Linie, von mir, Hans und Jutta. Und die Einzelbeiträge stammen von, ja eingentlich von allen.
FRAGE: Die Kritik daran war, daß das ein Mythos von der Naturkraft "Mädchen" wäre
DIEDERICHSEN: Das haben wir auch als Leserbrief bekommen. Da haben wir auch darauf geantwortet: Daß wir gerade das nicht meinen. Deswegen haben wir auch nicht "Mädchen", "Frau" etc. gesagt, sondern "Girl" als kulturelles Konstrukt. Und daß das "Say No To Scheißleben!" sich nicht auf eine primitive, Kaspar-Hauserhaftige, natürliche, Rousseau-artige Richtigkeit bezog, sondern gerade aus der Konstruktion einer Rolle, die man sich selbst gemacht hat.
DEUTSCHE IDEOLOGIE REVISITED - MATTHES & SEITZ
( z.T. unverständliche Fragen zu Tokyo Schwanstein im Kölner Rose Club...
– DD: „Wieso fragst Du? Hast Du da mitgespielt?“
– FRAGE: Nie! Ich schwör! u.s.w. im Allgemeinen und Speziellen)
FRAGE: Was in dem Zusammenhang wichtig ist/wichtig sein könnte, ist, daß er (Diener) von Matthes & Seitz begeistert ist. Daß er glaubt, in diesem Becken seine Verrücktheit umsetzen zu können. Nicht als bewußter Vorgang natürlich. Aber das ist natürlich so eine Art Sammlungsbewegung.
FRAGE: "59 to 1" war ja immer schon so Matthes & Seitz-Kultur, wurde viel verarbeitet und übertragen auf einen bestimmten Kontext.
DIEDERICHSEN: Das war ja auch zu einem Zeitpunkt, zu dem noch vieles nicht richtig klar war da. Mir ist auch heute noch vieles nicht klar daran. - Es ist ja nicht einfach nur ein neo-rechter Verlag oder so.
FRAGE: Der Manuel (damals Freund/Bekannter von P. Kessen) hatte ja für seine Zeitschrift so ein Streitgespräch vorgesehen zwischen Diederichsen und Matthes & Seitz –
DIEDERICHSEN: Um Gottes Willen!
FRAGE: Der Matthes & Seitz hat dann gesagt, er hätte dich häufiger angeschrieben, aber es wäre nichts zurückgekommen. Der war dann vollkommen eingeschnappt.
DIEDERICHSEN: Er hat mich einmal angeschrieben und ich hab zurück geschrieben. Dann hat er mir ein zweites Mal geschrieben und da hab ich nicht mehr zurück geschrieben. Der Brief war so unmöglich. - Aber ohne Zweifel ein interessanter Charakter, der Typ.
SOUNDGARDEN
FRAGE: Ich hab noch so eine Leserfrage. Du bist in letzter Zeit so auf die Besprechung dieser Soundgarden- Mother Love Bone- Pearl Jam-Stilschule abonniert. Mißt Du dem einen hohen Bedeutungsgrad zu als neue Rockschule oder sind das eher sentimentale Gefühle eines Led Zep-Fans?
DIEDERICHSEN: Nein. Ich denke, daß das sehr korrekt ist in seiner Melancholie. Daß die aber auch sehr angebracht ist. Das ist auch eine Melancholie, die davon handelt, daß es keine Schule mehr werden kann. Das ist eben so End-End-Rock. Und als solches eben irgendwie o.k., aber eben auch nicht mehr.
Ich glaube nicht, daß das fruchtbar ist, daß da was daraus hervorgehen wird. Ich habe die neue Soundgarden jetzt im nächsten Heft zusammen mit der neuen Meat Puppets besprochen, die ich sehr viel besser finde. Viel zukunftsweisender. Das ist zum ersten Mal wieder eine Platte, bei der eine Ami-Underground-Band die Tatsache, daß sie bei der Industrie ist, nicht dazu benutzt, jetzt eine Formel zu finden zwischen den Stühlen. Sondern komprimiert. Das, was sie selber immer gemacht hat, radikalisiert. Nämlich Guitarpicking, Country-, Bluegrass-bezogenes Gitarrenspiel, auf der anderen Seite so eine gewisse Metal-Schwere - beides in einer Spielweise zusammen. Und das finde ich viel interessanter als Soundgarden, die jetzt noch so eine Platte gemacht haben. Wobei ich Mother Love Bone von den dreien noch am besten finde ...
Ich finde die Soundgarden eigentlich die schlechteste von den dreien, den drei Soundgarden-Platten. Und die Meat Puppets richtig gut. Eigentlich das, was man von fIREHOSE hätte erwarten können.
ZUKUNFT - POP/-DISKURS
FRAGE: Schließen wir mit ein paar zukunftsweisenden Fragen ab: Könntest du dir vorstellen, daß eine so emphatische Besprechung von Musik/Pop wie Anfang der 80er noch einmal vorstellbar ist? Oder glaubst du, daß das ganze Projekt Rock'n'Roll/Pop als solches so auseinandergedrifftet ist, daß es nicht mehr zusammenlaufen kann?
DIEDERICHSEN: Was man, glaube ich, machen könnte, wäre eine extreme Hickhack-Diskutiererei. Man könnte nicht zurück zur Emphase kommen, aber zurück zum emphatischen Hickhack. Darüber, was erlaubt ist, was nicht erlaubt, was in welche Richtung geht - Begriffsbestimmungen und so was. Da könnte es jedenfalls zu Erregungen kommen.
FRAGE: Also nur auf der rein diskursiven Ebene?
DIEDERICHSEN: Davon sprechen wir doch aber auch, oder? Du sprichst ja auch vom Schreiben über Musik, nicht von der Musik oder von der Reaktion auf Musik auf der Tanzfläche oder im Konzertsaal.
FRAGE: Das war für mich das 82er Ding. Daß beides nicht voneinander zu lösen war.
DIEDERICHSEN: Das, so ein Vor-Erregtsein, setzt so ein Hickhack auch voraus. Aber ich denke, daß so was -
FRAGE: Wird sich der Diskurs noch für die Töne interessieren, für die herkömmlichen Geräte? Schlagzeug, Mikrophone, Stimmen?
DIEDERICHSEN: Was die Herkömmlichkeit betrifft, läßt sich sicher die eine oder andere Ablösung absehen. Ich messe dem im Augenblick nicht so eine wahnsinnige Bedeutung zu. Die grundsätzlichen Probleme sind klar und das wird noch eine Weile so gehen.
Was aber wichtig ist für so eine Zeitschrift wie Spex: Entweder, zu sehen, was das alles bedeuten könnte, wie komplex das alles ist und das alles auszutragen. Oder - was auch ehrenwert wäre - nur noch dazu beizutragen, daß die Hintergründe klar werden, daß man's verstehen kann. Oder daß man's auf irgendwas beziehen kann.
Die 82er-Schreibweise war ja offensiv produktorientiert. Da ging es ja darum, "mir doch scheißegal, was das für Typen sind oder: mir doch egal, unter welchen Verhältnissen das zustande gekommen ist. Entscheidend ist, was ich für mein Leben damit heute Nachmittag mache". Das ist - soweit ich das sehen kann - nicht mehr möglich. Obwohl: Man weiß ja nie.
1982
FRAGE: Aus heutiger Sicht, historisch betrachtet erscheint ja 82 als Geburtsdatum einer seltsamen Symbiose: Die künstlerische Produktion hätte ohne den Diskurs nicht stattfinden können. Die Musiken hätten ohne den ihnen zugeschriebenen diskursiven Gebrauchswert nicht funktioniert.
DIEDERICHSEN: Aber die Musik entwickelte sich ja an allen Ecken und Enden plötzlich in eine bestimmte Richtung. So verschiedene Sachen wie Kevin Rowland und Green Gartside, die ja eigentlich nichts miteinander zu tun hatten, konnten sich plötzlich auf Soul einigen. Das war dann plötzlich die Klammer für fast alles. Einerseits Kevin Rowland mit seinem Naturburschentum, und dann Green Gartside mit seiner ästhetischen Intellektuellen-Position. Plötzlich konnten alle sagen "Aretha Franklin!" oder "Geno Washington!" oder was auch immer. Und das hallte ja überall wieder. Das war ja überall die Befreiung von der Rock-mäßigen Abneigung gegen das Inszenierte.
FRAGE: Ich wollte auf was anderes hinaus: Gab es nicht so etwas wie eine stillschweigende Apperzeption bei den Musikproduzenten. Und zwar eine Apperzeption, die immer auf Literatur fixiert war, weil sie damit gerechnet hat, damit rechnen mußte daß so etwas aufbricht wie ein Diskurs, anstelle oder als Zugabe meinetwegen für Tänze, oder anderen Bewegungen im Rahmen der sozialen Praxis. Weil das damals die einzige Existenzmöglichkeit war. Auch ökonomisch.
DIEDERICHSEN: Bin ich nicht sicher, denn andererseits gehörte eben auch dieses ... - so etwas wie Kid P. eben in der Schreibweise und in der Selbsterklärung der Musik und in den musikalischen Bezügen - dieses Betonen von Euphorie und euphorisiert-sein und auf-Wolke-9-schweben et cetera. Also einerseits: Klar, wenn dann irgendeiner kam und versuchte, das zu erklären, sagte er "Die Inszeniertheit ist nicht mehr falsch, wir müssen die Inszeniertheit neu betrachten, das ist gerade gut usw.". Aber auf der anderen Seite waren die Discos voll von Leuten, die diesen Gedanken bestimmt nicht hatten, sondern zum ersten Mal in ihrem Leben Soulmusik hörten. Auch wenn das gar keine Soulmusik im eigentlichen Sinne war.
FRAGE: Hm.
FRAGE: Dieses Selbst-verantwortlich-fühlen-für-die-Entwicklung, was aus diesen Gedanken geworden ist: Ist das nicht auch ein Zwangsgedanke?
DIEDERICHSEN: Wenn man zum ersten Mal erlebt, daß Sachen nicht richtig ankommen, ist das ein erschütternder Vorgang. Dann aber, irgendwann gewöhnt man sich daran. Irgendwann weiß auch jeder: Es kommt halt immer nur soviel an. Innerlich kann man dann immer noch rechnen: Soundsoviel Komplexität läßt noch Klarheit zu, ab soundsoviel Komplexität ist Klarheit nicht mehr möglich, jedenfalls nicht für mich und unter diesen Zeitumständen oder so. Da gibt es dann immer wieder Kurskorrekturen, hin zur Klarheit oder hin zur Scheißegal-Klarheit wie: ich-laß-es-mal-wieder-wuchern!. Diese beiden Optionen sind natürlich immer gegeben. Aber so große Enttäuschungen darüber, daß irgendwas nicht richtig angekommen ist, habe ich heute nicht mehr.
Consolidated (kann sein, dass die folgende Passage in einen anderen Zusammenhang gehört, aber mir reichts, das Band transkribiert und die Originalunterhaltung so original wie möglich und unterhaltsam wie nötig lesbar gemacht zu haben, mir die 50 Seiten jetzt – 21 Jahre später – noch einmal auf totale publizistische correctness hin durchzulesen finde ich momentan einfach zu viel verlangt; wer die ursprüngliche Stelle im Gesprächsverlauf findet, darf mir natürlich eine E-mail schicken und/oder sich über meinen Fehler bei der redaktionellen Bearbeitung beschweren und erhält dafür postwendend einen Gutschein für ein Gratis-Bussi von mir und dazu einen großen Fliegenficker-Orden am Bande, natürlich auch und genau so umsonst aka unentgeltlich wie die stundenlange Arbeit, die mich die Frager-, Hörer- und Tipperei dieses Interviews seinerzeit bis jetzt gekostet hat)
FRAGE: Wär in dem Zusammenhang Consolidated eine Band die die Forderungen verwirklichen würde?
DIEDERICHSEN: Nein, Consolidated tun in diesem Zusammenhang nichts anderes als was jede straight edge hardcore Band getan hat. Consolidated ist inhaltlich nichts anderes als jede autonome Gruppe in Berlin. Denkt sich noch, hat noch so eine moralistische, rein moralistische, fast unpolitische, politische Haltung. Das ist gegen Fleischfressen, Sexismus, Rassismus und gegen Faschismus. Ohne eine positive Bestimmung. Und das, was eigentlich jedem moralisch klar ist, wird halt ausgebeutet. Das meine ich auch nicht als Vorwurf, das "ausgebeutet". Das benutzt, wo bei bestimmten Leuten eh Einigkeit darüber ist, ohne daß es auf eine weitere Stufe gebracht wird.
Gut, musikalisch ist es anders als Fugazi. Ich bin auch gar nicht so sicher, ob das jetzt ein Fortschritt ist. Denn das ist auch nur eine Approbation von irgendwelchen Mitteln, die schon zu Recht irgendwo sind. Das ist irgendwie ehrenwert, aber ich würde sagen, die Beatnicks waren da schon was weiter.
Die haben ja die Benutzung ihrer Mittel mehr reflektiert als Consolidated, weil sie auch eine weiße Band sind. Das hat damit vielleicht zu tun, ohne da Determinismen aussprechen zu wollen. Aber bei den Beatnicks hat natürlich eine Rolle gespielt, daß sie aus der Hip Hop Kukltur kamen, andererseits natürlich die typische Universitäts-Akademiker-Campus Mentalität mitbrachten.
FRAGE: Vielleicht könnte man an Consolidated auch den Unterschied an guter und schlechter Mikropolitik festmachen. Zum Beispiel dieser eine Text, bei dem die Verbindung zwischen Fleischessen und Machismo gezogen wird.
Das erinnert mich an Argumentationsweisen von diesem Pilgrim zum Beispiel, der in Deutschland ja ähnliches gemacht hat: Wenn man Fleisch ißt, ißt man Todesenzyme, das setzt sich dann wieder in sozialem Verhalten fort.
DIEDERICHSEN: Ziemliche Mystik, würd ich auch sagen. Ich will nicht von guter und schlechter Mikropolitik sprechen, sondern ich denke einfach, Consolidated, das ist nicht unbedingt falsch. Selbst wenn das hier inhaltlich falsch ist. Das ist bloß nichts Neues. Da wird kein Neuland betreten.
Und natürlich bei allen diesen Sachen, wie auch schon bei straight edge, gibt es natürlich eine Gefahr, nämlich dieses Urteilen über Andere aufgrund einer sich nicht weiter hinterfragenden moralischen Subjektivität: Als Grundlage von allem steht mein Rechts - und Unrechtsempfinden und ich gehe da auch nicht weiter.
Weil ja das Argument, das dann kommt ist: Wir haben auch keine Zeit dafür, die Verbrechen haben ein Ausmaß erreicht, wo wir gar nicht mehr rechtfertigen können, warum wir sie für Verbrechen halten. Und das ist ja für vieles was angeführt wird richtig. Bloß wird es -weil man ja immer bei sich selbst anfangen will mit dem Abschaffen des Bösen und im Kleinen Kreis, das ist ja das einzig wirksame - dann zu einer Rigidität, die ja alles andere als Verschiedenheiten etc ist.
FRAGE: Könntest du eine Band nennen, die eine positive Form von Tribalismus und Mikropolitik umsetzen würde, wenn Consolidated eher das Traditionelle ist? Oder gibts das nicht in der Musik?
DIEDERICHSEN: Eine band kann ja kein Tribe sein. Die kann nur zu einem gehören. Und auf der anderen Seite: Tribalismus ist ja auch ein haariger Begriff. Ich würde nicht hingehen und sagen, die alten Bewegungen sind tot, jetzt kommt der Tribalismus. Denn Tribalismus machen auch Skins. Das sind auch Tribalisten. Und da gehört noch was, ein Ferment dazu, bevor man den sich auf seine Fahnen schreiben kann. Ich bin auch nicht einverstanden damit, was teilweise in SPEX geschieht, durch die Gegend zu ziehen und überall einen Tribe zu entdecken, hier nen Tribe, da nen Tribe. Nur weil es ein Tribe ist, ist es gut. Denn das ist zwar die einzige Möglichkeit - Tribalismen - bloß reicht das noch nicht. Und jetzt zur Frage: Eine Band die das richtig macht? Nein. "Richtig" würde ich da nicht verhängen wollen.
ZUKUNFT
FRAGE: Die Sache, an der du gerade arbeitest. Ein Buchprojekt?
DIEDERICHSEN: Ich will mich da nicht festlegen. Ich weiß wirklich nicht, was daraus wird. Ich bin froh, daß ich halbwegs ein bißchen mehr Freiheit habe, zeitliche und sonstige, um etwas schweifender an Sachen heranzugehen. Wie sich das irgendwann wieder materialisieren wird, will ich offenlassen. Sonst wird das wieder so ein Abgabetermin-ist-15.-Mai - Ding oder so.
SPORTSCHAU
DIEDERICHSEN: Wie spät ist es überhaupt? Gleich sechs, oder was?
FRAGE: Halb sechs, ja.
DIEDERICHSEN: Halb sechs - dann kann man gleich nach den Nachrichten die Bundesligaergebnisse hören. Moment. - Vielleicht schaffen wir es noch.
FRAGE: Gibt's hier irgendwo ne Kneipe, wo man auch Sportschau schauen kann oder (unverständliches Gegrummel)?
DIEDERICHSEN: Ja, warte mal. Das kann man vielleicht irgendwie regeln. (Grummel. Grummel...)
ENDE
(alle Beteiligten ab in eine Kölner Bierwirtschaft mit TV-Empfang in kurzer Fußwegnähe der Büroräume der damaligen Spex-Redaktion in der Aachener Straße)
Copyright THE GREAT GATE
Urheber, Inhaber aller (Verwertungs-)Rechte inkl. Leistungsschutz des Interview-Textes bei: Diedrich Diederichsen, Peter Kessen, Andreas Otteneder, Martin Posset, in Stellvertretung wahrgenommen durch THE GREAT GATE, Adresse siehe Impressum
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Sonntag, 4. November 2007
THE GREAT GATE LIVE INTERVIEW – TALKING ABOUT CHRIS KING – VOL. III
the great gate, 20:08h
Start: 20 Uhr
Open end
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Donnerstag, 30. August 2007
THE GREAT GATE LIVE INTERVIEW – TALKING ABOUT CHRIS KING – Fortsetzung
the great gate, 21:33h
Start: 20.30 Uhr
open end
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Mittwoch, 27. Juni 2007
EXKLUSIV: INTERVIEW NIKLAS LUHMANN – SOMMER 1994
the great gate, 04:06h
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"speak": Herr Professor, als Erstes würden wir gerne wissen, was Sie dazu bewogen hat, nach Ihrer beruflichen Tätigkeit als Jurist ausgerechnet die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin zu wählen?
Niklas Luhmann: Ja. Also es gab erste Kontakte während des Studiums über Eduard Baumgartner, das war ein Max Weber Schüler in Freiburg, 48/49, und dann konkret eigentlich die Frage, ob ich weiter als Verwaltungsbeamter, als Jurist, tätig sein sollte, wie die Karriereaussichten sind, und wenn ich mich entschließen sollte in die Universität zu gehen, ob dann nicht als Jurist, sondern als Soziologe, um mir eine breite Wahl von Themen offen zu halten.
"speak": In welchem Bereich der Verwaltung waren Sie tätig?
Niklas Luhmann: Im Kultusministerium in Hannover.
"speak“: Inwieweit hat Sie diese Beschäftigung in Ihren späteren Arbeiten als Soziologe beeinflusst?
Niklas Luhmann: Ja eigentlich indirekt, insofern die wirklichen Vorgänge ja nicht rein juristische waren. Ich meine, man mußte das Handwerkszeug beherrschen. Aber um zu verstehen was vor sich ging und um Einfluß zu haben, mußte man andere, soziale Faktoren berücksichtigen und nicht nur die Frage, welche Auslegung der Texte die zutreffende ist.
Aber eigentlich war es eher Lektüre und dann ein Kontakt mit Talcott Parsons. Ich habe mich beurlauben lassen ein paar Jahre. Und das hat dann von der fachlichen Seite eher den Ausschlag gegeben als meine konkreten Erfahrungen innerhalb der Politik.
"speak": Ihr Einstieg in die Soziologie folgte also einem externen Impuls. Es gab kein Problemfeld, das Ihnen in der juristischen Praxis begegnet war und Sie veranlaßt hätte –
Niklas Luhmann: Nein. Höchstens in den ersten Publikationen, in den ersten Forschungsrichtungen. Da hat natürlich das Administrative, Politische, Juristische, Organisatorische eine dominierende Rolle gespielt, weil ich mich da auskannte.
"speak": Wenn Sie auf Ihre Arbeit als Soziologe zurückschauen. In welcher Tradition können Sie sich wieder erkennen? Fühlten Sie sich der Aufklärung verpflichtet oder einer kritischen Theorie, oder betrachten Sie die Systemtheorie, die ja sehr eng mit dem Namen Luhmann verbunden ist, in einem ganz anderen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext?
Niklas Luhmann: Eigentlich das Letztere. Das heißt: Ich denke, daß die Entwicklungen in der Systemtheorie heute das eigentlich intellektuell faszinierende sind und die Soziologie davon lernen kann und sich deshalb von ihren Traditionen inklusive Parsons abkoppeln muß. Insofern ist es eigentlich keine soziologische Vorgeschichte, die ich erzählen würde, wenn ich sozusagen Ahnenforschung betreiben sollte.
"speak": Jürgen Habermas, mit dem Sie in den 70er Jahren eine ausführliche Debatte über Sinn und Zweck soziologischer Forschung und wissenschaftlicher Theoriebildung überhaupt geführt hatten, stellte Sie damals in eine Reihe mit Theoretikern, die salopp gesagt einem rechtskonservativen Flügel zuzuordnen sind: z.B. Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky. Sehen Sie sich da richtig positioniert, was Ihren philosophischen Hintergrund betrifft?
Niklas Luhmann: Nein. Ich würde dem nicht zustimmen. Und ich bin auch im Zweifel, inwieweit diese Auffassung auch heute noch Resonanz findet. Ich weiß nicht mal, inwieweit Habermas das so wiederholen würde.
Aber es gibt eine eigentümliche begriffliche Radikalität in der Systemtheorie, die sich nicht gleichsam deckungsgleich auf vorhandene gesellschaftliche Realität abbilden läßt, sondern eher automatisch eigentlich, dann auch wieder kritisch oder auflösend – wie immer man das nennen möchte – wirken würde.
"speak": Wenn ich Habermas, der sich ja dezidiert als Erbe oder Fortsetzer dessen betrachtet, was kritische Theorie einmal gewesen ist, richtig verstanden habe, sieht er in Ihnen doch den Vertreter einer Position, die jener Aufklärung, die in seinem wissenschaftlichen Programmen als geschichtliche Aufgabenstellung projektiert wird, unversöhnlich entgegen steht. Die Systemtheorie als Erklärungsmodell gesellschaftlicher Entwicklung gilt ihm ja geradezu als Gegenbild der in seiner Arbeit versuchten Aufklärung.
Niklas Luhmann: Ja. Das hängt damit zusammen, daß Habermas die Moderne von der Aufklärung, von Kant her – eigentlich nicht so sehr von Adorno her – jedenfalls vom 18. Jahrhundert her versteht, und da eine antimodernistische Tendenz sieht, wenn das dann die Moderne gewesen ist oder sein soll oder trotz allem bleiben soll.
Die Front ergibt sich, da ich nicht an eine Vernunftaufklärung glaube.
Ich glaube nicht, daß die Gesellschaft nach irgendwelchen Vernunftprinzipien geordnet werden könnte, und glaube auch nicht, daß sich das in Sprachtheorie umsetzen läßt, was ja Habermas eigentlicher Kernpunkt ist. Und insofern gibt es diese Gegnerschaft.
Und wenn Habermas sich als modern, progressiv, oder kritisch versteht, dann gehöre ich eben auf die andere Seite.
Aber das besagt eigentlich gar nichts über meine eigentlichen Intentionen.
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"speak": Auf welche Realitäten reagiert die Systemtheorie, welche Probleme versucht sie zu lösen? Wo lagen die Motive, einen systemtheoretischen Ansatz zu entwickeln?
Niklas Luhmann: Ich glaube nicht, daß es spezifische Probleme sind, weil einer der Kernbestandteile die Vorstellung ist, daß eine Gesellschaft über funktional ausdifferenzierte Systeme beschrieben werden sollte.
Das heißt: Die Systemtheorie hat ja je nach dem Funktionssystem, auf das sie angewendet werden sollte, sehr verschiedene Arten von Problemen: ökonomische, politische, oder wissenschaftliche.
Oder Probleme in Intimbeziehungen, in der Religion.
Oder was auch immer sie behandeln muß.
Und die Intention ist gerade die, eine Vergleichbarkeit herzustellen über so verschiedene Gebiete. Deswegen ja auch die Abstraktion des Vokabulars.
"speak": Die Systemtheorie ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Können Sie Realitäten oder Brüche in bis dahin gültigen Traditionen angeben, womöglich historische Ereignisse, auf die die Systemtheorie als paradigmatisches Wissensmodell rekuriert und den wissenschaftlichen Neuansatz notwendig erscheinen ließ?
Niklas Luhmann: Ich denke, daß die wesentlichen Impulse bisher nicht von der Soziologie ausgegangen sind und insofern auch nicht mit bestimmten gesellschaftlichen Erfahrungen verbunden waren.
Sondern das war in der allgemeinen Systemtheorie das Entropieproblem und die Frage, wie man Ordnung – wie die Naturwissenschaftler heute sagen – fernab vom Gleichgewicht, d.h. fernab von der Auflösung aller Differenzen hin zu einer entropischen Situation – wie man die erklären kann.
Und im Wesentlichen kopiert die Systemtheorie dieses Problem.
Also wie kann man Gesellschaft erklären?
Sie kommt dann zu dem Punkt, daß wir an sich von extrem unwahrscheinlichen Bedingungen ausgehen, die normalisiert haben, sodaß wir wieder zurück gehen müssen auf ein Verständnis der Unwahrscheinlichkeit oder einer riskierten Geldwirtschaft oder personalisierten Intimbeziehungen.
"speak": Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie also, daß die neuen Impulse aus der Wissenschaftstheorie selbst gekommen waren?
Niklas Luhmann: Aus der Systemtheorie. Das wird nicht unbedingt eine Wissenschaftstheorie sein.
"speak": Soweit ich Ihren bisherigen Ausführungen folgen konnte, klingt es, als sei die Systemtheorie sozusagen zur Aufarbeitung der in den Naturwissenschaften lose vagabundierenden Modellansätze erfolgt.
Könnten Sie abseits der Entwicklung in den Wissenschaften historische Ereignisse, Zäsuren, Präzedenzen angeben, die für Sie ein systemtheoretisches Paradigma erforderlich oder notwendig erscheinen lassen?
Niklas Luhmann: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, beziehen Sie sich jetzt auf die Gesellschaft und nicht auf die allgemeine Systemtheorie. Das ist natürlich ein wichtiger Unterschied.
Die allgemeine Systemtheorie hat eben bestimmte naturwissenschaftliche, eben auch mathematische Probleme. Das Problem der Dominanz von Gleichgewichtsmodellen, das Zeitproblem u.s.w. Das ist die eine Sache.
Wenn man die Gesellschaft mit entsprechenden Theorien selbstreferenzieller Systeme beschreiben will, ist das zunächst einmal eine rein intellektuelle Unternehmung, eine wissenschaftliche, eine soziologische, die natürlich auch auf soziologieinterne Probleme reagiert.
Die zum Beispiel die Welle einer optimistischen Modernisierungssystematik nicht mitmacht, die in den späten 50er und frühen 60er Jahren üblich war.
Und auch den marxistischen Trend nicht mitmacht und dadurch über den Wechsel solcher Moden hinaus eine gewisse Stabilität hat.
Das ist meine Vorstellung: Man müßte eine Gesellschaftsbeschreibung anfertigen, die endlich komplex genug ist, um der Moderne gerecht zu werden.
Aber die Anlässe dafür sind dann eher der Eindruck, daß wir noch gar nicht genügend wissen und nachgearbeitet haben, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben, oder mit welcher Gesellschaft unser Schicksal verbunden ist.
Und diese Aufgabe ergibt sich in gewisser Weise aus der Unzulänglichkeit von bisherigen Beschreibungsversuchen, aber nicht aus spektakulären Ereignissen.
Man könnte höchstens sagen, daß das ökologische Interesse sehr stark mit einem systemtheoretischen Instrument aufgegriffen werden kann, weil die Systemtheorie automatisch System-, Umwelttheorie ist, also nicht die Gesellschaft dialektisch oder Entropien aus ihren eigenen Dynamiken heraus beschreibt, sondern immer in Differenz zur Umwelt sieht.
Und insofern hat es die Systemtheorie besonders leicht aktuelle Interessen aufzugreifen. Das gilt auch für das Verhältnis von Zeit und Risiko – auch wieder Thematiken, die jetzt wieder modern sind.
Aber es sind eigentlich nicht spektakuläre gesellschaftliche Anlässe wie Tschernobyl oder der Zusammenbruch des Marxismus. Oder die Ölpreiskrise oder was auch immer.
Das sind Sachen, die dann nachgearbeitet werden können, wenn sie empirisch klar sind.
"speak": Folgen aus der Systemtheorie praktische Handlungsanweisungen? Mit Hilfe eines deterministischen Erklärungsmodells läßt sich zumindest aussagen, dass, wenn der Zins steigt beispielsweise, Folgendes passieren wird. Gilt für die Systemtheorie Ähnliches? Kann man sagen, weil das marxistische Denken nicht funktionieren kann, genauso wenig ein rein evolutionäres, ist es vernünftiger systemtheoretisch vorzugehen? Mit anderen Worten: Worin besteht der produktive Wert der Systemtheorie? Für welche gesellschaftlichen Probleme kann sie Lösungen vorschlagen?
Niklas Luhmann: Also die Systemtheorie ist sicher keine kausalistische Theorie. Schon deshalb nicht, weil man sonst Politik in die Wissenschaft mit einbeziehen würde.
Wenn man sagen würde, wie es richtig gemacht werden sollte, würde man ja Politik machen, eine Art technokratische Vorstellung haben.
Das ist sicher nicht der Fall und wird auch durch die Gesellschaftstheorie selber schon desavuiert, indem sie Politik oder auch Intimbeziehungen oder Religion oder Wirtschaft als eigene Systeme beschreibt, die von der Wissenschaft aus nicht gesteuert werden können.
Aber es gibt natürlich Veränderungen in den typischen Problemstellungen. Und das kann man relativ deutlich spezifizieren. Wenn Sie z.B. die Probleme der Arbeitslosigkeit, der massenhaften Entlassungen in Europa sehen, dann kann man die Frage stellen: Ist das ein Effekt von Konjunktureinbrüchen? Müssen wir das zwei, drei Jahre durchhalten oder hat das strukturelle Gründe?
Und da würde man vielleicht sagen, daß in der modernen Gesellschaft das Interesse an der Unternehmenserhaltung und das Interesse an Vermögenserhaltung auseinander laufen. Wenn ich mein Vermögen halten will, kann ich nicht mein Unternehmen halten.
Und das ist auch völlig antimarxistisch gedacht. Ich habe mein Vermögen nicht im Unternehmen. Mein Vermögen fließt je nachdem, wo es angelegt werden soll. Und das Unternehmen ist eine andere Sache.
Wenn man diese Tendenz beobachtet – und das läßt sich systemtheoretisch aufhängen – hat man natürlich ganz andere Vorstellungen in Bezug auf Politik und in Bezug auf öffentliche Meinung auch und in Bezug auf Weltkonstellationen, auf das Verlagern von Produktion in Billiglohnländer und dergleichen, als man sie hätte, wenn man sie nur konjunkturspezifisch sieht.
Daraus folgt noch keine Handlungsanweisung. Aber ich denke, die Art wie man sich vor Probleme stellt ist der Schritt von dem aus man es der Wirtschaft oder der Politik überlassen kann, Konsequenzen zu ziehen.
"speak": Sehen Sie in der Entwicklung der Systemtheorie auch einen Übergang von technischem Wissen zu Wissenstechnologie?
Niklas Luhmann: Nein. Eigentlich nicht. Das ist durch die Selbstreferenzkybernetik eigentlich unterbrochen. Wenn man Input-Output-Modelle hat, also Input und eine mathematische Funktion oder eine Maschine, die das in Output transformiert, dann hat man ein Technikmodell. Wenn es nicht funktioniert, muß die Maschine repariert werden oder die mathematische Formel war falsch.
Mit der Ersetzung dieses Input-Output-Modells durch eine selbstreferenzielle Konzeption von Maschine – oder manche sagen Mathematik – ist es aus (man kann es auch in Organisationstheorien übersetzen), denn dadurch explodieren gleichsam die Möglichkeiten. Die Mathematik sagt nur: Es ist unberechenbar.
Es kommt auf die historische Situation an, in der ein System sich findet, um mit Bezug auf sich selber nächste Schritte wählen zu können.
Und das macht es für einen Außenbeobachter unberechenbar.
Aber man kann es natürlich verstehen und beschreiben.
Das liegt ja auch in der Chaostheorie, in der Bregorschinschen Theorie desintegrativer Strukturen u.s.w., daß man das Unvorhersehbare vorhersehen kann, also Theorien bildet, die das mit einschließen.
Insofern ist es also keine technisch affine Theorie, obwohl Technik als Phänomen natürlich eine Rolle spielt.
"speak": Gibt es für Sie Ursachen von Evolution oder überhaupt Evolution in einem gegenständlichen Sinn?
Niklas Luhmann: Ja. Es gibt deutliche Tendenzen Evolutionstheorie und Systemtheorie zu verbinden. Also nicht zwischen statischen und dynamischen Modellen hin und herzupendeln wie in der Tradition, sondern die Systemtheorie so zu bauen, daß die Evolutionsfähigkeit von Systemen in die Systemtheorie schon eingeschlossen ist und umgekehrt die Evolutionstheorie so zu bauen, daß man einen systemtheoretischen Apparat braucht, um erklären zu können, wieso etwas evoluieren kann.
Aber das werden keine Prozesstheorien sein, sondern eher Theorien unwahrscheinlicher Strukturänderungen. Also wie kommt es zur Erfindung von gemünztem Geld? Wie kommt es zur Sprache? Wie kommt es zur Änderung staatlicher Strukturen? Wie kommt es zu Film, zu beweglichen und akustisch synchronisierten Bildern? Und welche Konsequenzen hat das? Da kann man nicht von Planungstheorien ausgehen. Auch nicht von Entwicklungstheorien, so als ob am Anfang schon entschieden wäre, daß das irgendwann einmal kommen muß. Sondern da ist dann Evolutionstheorie eigentlich der Apparat, der heute angeboten wird. Also eine Theorie, die auf Variation, Variationsempfindlichkeit, Irritabilität sozusagen, Selektion und dann Stabilisierung und neuer Variation aufgebaut ist.
Diese Entscheidung ist dominant und nicht die Epochenunterscheidung.
Da gibt es einige Tendenzen in der Biologie, aber auch in der ökonomischen Evolutionstheorie, die in diese Richtung gehen.
"speak": Für den Ökonomen North, der 1993 den Nobelpreis in den Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, zeigen sich evolutive Entwicklungen ökonomischer Systeme in einer von technischen Neuerungen und entsprechender ideologischer Ausrichtung entfalteten Matrix.
Niklas Luhmann: Evolution läßt sich zurückführen auf eine Trennung und Zufallskombination von Variation, Selektion und Restabilisierung. Aber es ist keine gesetzmäßige oder auch nur wahrscheinliche Kausalität, sondern es geht eher um eine Normalisierung des Unwahrscheinlichen.
Und Technik spielt dabei natürlich eine Rolle. Schon Schrift kann man ja als Technik betrachten. Dann den Buchdruck natürlich, um sehr weit reichende Veränderungen zu erwähnen. Und natürlich ist die gesamte Technikabhängigkeit der modernen Gesellschaft evolutionär entstanden und nicht planmäßig.
Wir wollten uns gar nicht so abhängig machen vom Funktionieren der Technik oder auch von Geld. Ich meine gemünztes Geld und quantitativ zerstückelbare Werteinheiten.
"speak": Ist der systemtheoretische Versuch Gesellschaft zu beschreiben einer, der die Voraussetzungslosigkeit seiner theoretischen Annahmen unterstellt?
Niklas Luhmann: Nein. Voraussetzungslos würde ich nicht sagen.
Man muß immer ein Beobachtungsinstrument haben. Und man muß sehen, daß wenn man andere Begriffe bildet, wenn man andere Dinge, andere Phänomene beschreibt, wenn man nicht von System und Umwelt ausgeht, sondern ein dialektisches Modell hätte, dann würde man eine andere Gesellschaft beschreiben, ein anderes Objekt konstruieren.
Insofern ist in die Systemtheorie gerade das Bewußtsein der eigenen Architektur sehr stark eingearbeitet.
Und das ist auch einer der Punkte, wo man sich mit Philosophen sicher rascher verständigen kann als mit normalen Soziologen.
Weil die Philosphen – wenigstens seit Kant – immer ein deutliches Architekturbewußtsein hatten in Bezug auf das, was die Eigenarten einer bestimmten Konstruktion ausmacht.
Also voraussetzungslos sicherlich nicht. Aber es ist eben eine Beschreibung, die, wenn man wissenschaftstheoretisch argumentiert, man am besten als konstruktivistisch auffassen würde.
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"speak": Welchen Adressaten gibt es für Sie in Ihrer Arbeit als Soziologe?
Niklas Luhmann: Das ist ziemlich diffus eigentlich, denke ich. Und das ist regional sehr unterschiedlich, also in Deutschland ganz anders als in Italien. In USA ganz anders als in Mexiko oder in Brasilien und in Japan.
Ich denke, daß es Viele, insbesondere in der jüngeren Generation gibt, die das Gefühl haben, sie hätten kein zureichendes Bewußtsein in Bezug auf die Gesellschaft in der wir leben.
Und ich denke auch, daß es Theorieinteressen gibt, die besser bedient werden könnten als das normalerweise geschieht.
Aber das läßt sich schwer in irgendwelche festen Gruppen einbauen, und es ist eben, was die Kontakte angeht, regional außerordentlich verschieden.
Also in Brasilien sind es ursprünglich eher Juristen gewesen aus irgendwelchen Zufällen. In Japan zunächst auch. Und dann erst die Soziologen. In USA sind es jetzt Literaturwissenschaftler.
"speak": Sie ersparen uns die Überleitung zur nächsten Frage. Wo sehen Sie hauptsächlich die Bedeutungsfunktion systemtheoretischer Aussagen oder der Systemtheorie überhaupt?
Sehen Sie sich eher als Produzent eines speziellen Genres von Literatur oder als jemanden, der in einen Forschungsprozess eingebunden ist und mit seinen Texten mehr oder andere Ansprüche verknüpft, als ein, ich sag mal gewöhnlicher Autor?
Niklas Luhmann: Also ich würde mal sagen. Es ist deutlich Forschungsliteratur. Was nicht heißt, daß Formulierungen – oder sagen wir mal – man kann sich bei theoretischen Schwierigkeiten mit besonders eleganten Formulierungen helfen.
Insofern ist das Literarische und das Theoretische nicht ganz zu trennen.
Auch Übersetzungsprobleme sind im Wesentlichen auch Probleme der Eleganz, die das Lesen erleichtert.
Aber von der Intention ist es ganz deutlich das Skizzieren und Ausbauen einer Theorie, also ein Forschungsinteresse. Und das andere ist nur Instrument.
"speak": Wo verläuft für Sie die Grenze, die einen literarischen Text von einem Text unterscheidet, der den Anspruch erhebt eine wissenschaftliche Theorie oder Ergebnisse dahingehender Forschung zu vermitteln?
Niklas Luhmann: Schon Literatur ist kein einheitlicher Begriff. Wenn man Dichtung, Poesie einerseits nimmt und daneben dann den Roman, dann hat man völlig andere Vorstellungen von Literatur. Da stellt sich die Frage nach der Fiktionalität.
"speak": Den klassischen Wahrheitsanspruch von Wissenschaft stellt ja die Systemtheorie radikal in Frage. Auf welcher Ebene kann dann aber die Unterscheidung Fiktion Non-Fiktion vermittelt werden?
Niklas Luhmann: Wenn es um Übereinstimmung mit einer vorhandenen Realität geht. Aber deshalb gibt es trotzdem Bewährungskriterien für Aussagen innerhalb der Theorie. Das sind Konsistenzzwänge.
Wenn ich den Begriff Autopoiesis setze, muß ich andere Begriffe anpassen. Auf der begrifflichen Ebene ist das so ähnlich wie wenn man ein Kunstwerk macht, eine Fuge. Es braucht ja nicht Literatur zu sein. Es muß eine gewisse Stimmigkeit hergestellt werden. Wenn das ein sehr abstraktes Kriterium des Vergleichs ist, würde ich schon sagen, daß ein Architekturbewußtsein, das Bewußtsein was zu was paßt, Ähnlichkeiten hat mit der Produktion von Kunstwerken. Aber natürlich sind die Kriterien nachher andere.
"speak": Welche Wissenschaften haben Sie abseits der Soziologie am meisten interessiert? Gibt es da Präferenzen?
Niklas Luhmann: Das wechselt sehr stark. Natürlich sind es geschichtliche Dinge. Obwohl mich die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen nur zu den Quellen hinführt, aber nicht in sich selbst interessant ist. Eigentlich je nach dem Bereich, um den es geht. Wenn es um Religionssoziologie geht, muß man mit Theologen Kontakt haben. Wenn es um Rechtssoziologie geht, ist das Funktionieren der juristischen Entscheidungspraxis unentbehrlich. Und dann hat man eben die entsprechende Literatur dazu.
"speak": Bemerken Sie als Soziologe einen Tendenzwechsel oder einen Stimmungswandel in der BRD-Gesellschaft seit dem Fall der Mauer?
Niklas Luhmann: Ich würde zwei Ebenen unterscheiden: Einerseits gibt es sicherlich in der öffentlichen Meinung, also dort, wo über Stimmungen berichtet wird, einen deutlich pessimistischen, skeptischen, enttäuschten Ton. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dieses Bild sich so rückprojizieren ließe, wenn man mit Umfragen in die Bevölkerung gehen würde. Oder ob nicht alle sagen: Ja es ist nicht so gut, es geht bergab mit der Wirtschaft, mit der Arbeit u.s.w., aber mir persönlich gehts eigentlich ganz gut.
Es ist die Frage inwieweit ein Meinungsbild erzeugt wird, daß dann als Meinungsbild, als Klischee funktioniert. Was der Einzelne aus eigener Erfahrung sagen kann ist noch etwas sehr verschiedenes. Und da kommt man nur ran, wenn man aufsplittet nach Generationen oder Wohnsitz u.s.w.
"speak": Gewinnen nationalistische Strömungen nicht mehr und mehr an Bedeutung? Wenn die Leute so zufrieden wären wie Sie sagen, woher kommt dann dieser beinah an Snapping erinnernde Nationalismus, der – zugegeben – freilich nicht nur ein deutsches Phänomen ist?
Niklas Luhmann: Es gibt generelle Tendenzen. Ich bin mir nicht sicher, ob man den Nationalismus in dem breiten Sinne da hinzuordnen kann. Aber es gibt generelle Tendenzen sich gegen die Globalisierungseffekte, gegen den raschen Wechsel von Abhängigkeiten, wenn ich so sagen darf, zur Wehr zu setzen und irgendwo Identität zu suchen. Denn irgendwas muß ich doch sein und irgendwofür muß ich mich doch einsetzen. Und irgendwas darf doch nicht morgen schon wieder überholt sein. Und da bieten sich teils religiöse Fundamentalismen an, teils nationale, oder ethnische, die dann immer auf Differenz bedacht sind. Also: Die Russen sind keine Ukrainer oder keine Kirgisen u.s.w. Also es gibt diese Tendenzen, die Globalisierung zu durchbrechen durch Unterscheidung.
"speak": Inwieweit halten Sie diese sozusagen antimodernistischen Tendenzen innerhalb einer Gesellschaft für ideologisch virulent? Und gesetzt den Fall, die Sehnsucht nach Identität durch Abgrenzung, läßt sich in einer Ideologie vermitteln: Könnte das bestehende soziale und politische Systeme erschüttern oder handelt es sich lediglich um psychologische Begleiterscheinungen, die die bestehenden sozialen und politischen Systeme nicht nachhaltig gefährden können?
Niklas Luhmann: Ich nehme an, daß der Test in der Ökonomie liegt, letztlich. Und daß die Frage, wieweit man nationalistische Tendenzen angesichts von wirtschaftlichen Problemen durchhalten kann, die eigentliche Testfrage werden wird.
Ich war während des Unabhängigkeitsplebiszits in Kroatien, vorher in Slowenien. In Slowenien war alles ökonomisch kalkuliert. Wenn wir selbstständig sind, was macht unser Außenhandel mit dem früheren Jugoslawien? Können wir den ersetzen, auf Firmenkontakt, auf Staatskontakt? Die ganze Diskussion lief völlig ökonomisch. In Kroatien spielte das überhaupt keine Rolle. Daß Kroatien ökonomisch als Kleinland so nicht reüssieren kann, interessierte sie gar nicht. Wir müssen erst mal die politische Selbstständigkeit sichern und uns gegen Serbien verteidigen. Und die Frage ist, inwieweit ökonomische Rücksichtslosigkeit auch nach dem Muster Slowakei – es gibt da viele, viele Beispiele – in größeren Blöcken wieder aufgefangen werden muß, oder wieweit das dann einfach eine Hungerstrecke bedeutet und eine Rückentwicklung in – um die Slowakei als Beispiel zu nehmen - einstmals stark industrialisierten Ländern.
Und wenn man mit Südamerika vergleicht: Da habe ich auch den Eindruck, daß die Komponente Militär, oder Einheitspartei, Nation und Anti-USA-Politik und internationale Abschottung, eigene Autos, eigene Wirtschaft etc., daß dies zurückgebaut wird. Und daß das einen Zusammenhang hat mit der Unmöglichkeit der Militärs eine andere ökonomische Politik zu haben als eine Zivilregierung haben würde. Es gibt also diesen Zusammenhang. Und ich vermute, daß die ökonomischen Interessen der Bevölkerung so stark sind, daß eine militärische, eine nationalistische Politik mit jeglichen dauerhaften ökonomischen Belastungen nicht wird durchhalten können.
"speak": Auch in der angestrebten politischen Union der EG-Staaten könnte man einen Supranationalismus am Werk sehen, der versucht, sich abzuschotten und daran scheitert, daß sich Nationalismus und Marktwirtschaft nicht vereinbaren lassen.
Niklas Luhmann: Das liegt zum einen sicher am Primat der organisatorischen Vereinheitlichung und dem Einwirken der Industrie und regionaler Interessen auf die Organisation direkt, ohne politische Vermittlung. Und das wird in ein europaeigenes Rechtssystem überführt werden. Aber das wirkt ja tendenziell auf die Idee Europa eher negativ. Ich vermute, daß die starke organisatorische und juristische Komponente der Vereinheitlichung eher den Optimismus der 50er Jahre, die Idee Europa ruinieren wird und damit auch eigentlich auch keine nationalen Tendenzen freisetzt, sondern vielleicht eher eine Frage, wie fahren wir besser: mit Abschottung, oder durch Öffnung der Grenzen?
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"speak": In welcher Beziehung stehen wissenschaftliche Soziologie und Zeitgeschichte?
Niklas Luhmann: Ich denke sehr eng. Ich glaube in der Gesellschaftstheorie kann man nicht mit den traditionellen empirischen Methoden arbeiten, das heißt mit social research, oder Experimenten.
Natürlich ist das alles wichtig und gibt Einzeleinsichten über die man dann nicht hinwegkommen kann. Aber ich denke, daß eine Gesellschaftstheorie heute ihren Realitätskontakt in anderen Formen suchen muß. Nämlich in direkten Milieukontakten mit Industrien oder mit Banken und politischen Parteien oder auch mit Brüssel, was weiß ich.
"speak": Sie sprechen jetzt von der organisatorischen Ebene wissenschaftlicher Forschung. Die Frage zielte aber auf die Ebene der Theoriebildung, auf den paradigmatischen Aspekt soziologischer Gesellschaftsbeschreibungen. Welche Rolle spielen da Begriffe wie Weltpolitik oder Zeitgeschichte? Sie haben hier in der LMU München in Ihrer Vorlesungsreihe den Ausdruck Weltgesellschaft als Grundbegriff einer nicht mehr nach Regionen und Staaten gegliederten Uniform sozialer Ordnungen erläutert.
Niklas Luhmann: Ich würde insofern korrigieren, als ich mit Weltgesellschaft nicht die Vorstellung einer zunehmenden Uniformität sehe.
Ich denke nur: Wenn man mit regionalen Unterschieden anfängt, wenn man da ansetzt und feststellt, in Japan ist es anders als in Brasilien, in Thailand anders als in Litauen, dann hat man eigentlich keine Möglichkeit mehr, diese sehr unabhängig eingeführte Variable zu erklären.
Wenn man bei Globalisierung ansetzt, kann man besser erklären, wieso die Weltgesellschaft Unterschiede verstärkt, also die, die schon etwas haben, noch mal begünstigt, und die, die nichts haben nicht begünstigt. Diejenigen, die an der Vorderfront der Wissenschaft arbeiten mit Nobelpreisen zu bedenken, und –
"speak": Eben. Es gibt doch einen Ausdruck, der genau diesen globalen Sachverhalt bezeichnet, nämlich den Begriff Weltmarkt?
Niklas Luhmann: Ja, im ökonomischen Bereich. Ich denke vor allem an Finanzmärkte. Da ja alles, sowohl Konsum als auch Investitionen über Kredit läuft oder rational nur sein kann, wenn partiell mit Krediten gearbeitet wird, ist natürlich der Weltfinanzmarkt ein ganz entscheidender Punkt.
Aber dann hat man natürlich die Frage, unter welchen Bedingungen wer Kredit bekommt und wie sich dann Zentrum-Peripherie-Strukturen ausdifferenzieren unter dem Gesichtspunkt von Kreditfähigkeit und Ausschöpfen von Rationalitätschancen und wie das dann im Lauf der Zeit wechselt, wie es sich beispielsweise von Japan weg nach Taiwan oder Südkorea entwickelt. Wie Billiglohnländer aufsteigen und andere zu Verwaltungszentren werden. Das bleibt ja auf das Ökonomische beschränkt.
Und damit würde man die klassische Religionsentwicklung kaum erklären. Wieso also innerhalb des Islams ein Fundamentalismus entsteht. Innerhalb der christlichen Religionen weniger. Innerhalb der katholischen Religionen in Südamerika neue ganz primitive Trancekulte, die nicht mal zwischen weißer und schwarzer Magie unterscheiden, aber Maria als Hauptperson haben. Diese Entwicklungen wiederum sind ökonomisch nicht wirklich zu erklären, so daß ich mit dem Konzept funktionaler Differenzierung besser fahren würde und das auseinander ziehen könnte, was bereits in der Ökonomie, in der Wissenschaft, in der Religion, in der Auffassung von Intimbeziehungen geschieht.
"speak": Sehen Sie Unterschiede zwischen den mitteleuropäischen Gesellschaften und Gesellschaften, wie denen der USA bei der Entwicklung politischer Strategien z. B. in Bezug auf Minoritäten oder angesichts ökonomischer Krisen?
Niklas Luhmann: Also ich denke in den USA ist traditionell das Gefühl einer Uniformität sehr viel stärker als in Europa. Das heißt die Möglichkeit abweichende Meinungen politisch aufzubauen ist sehr viel geringer entwickelt. Auch schon über das Massenmediensystem, auch schon über die starke Moralisierung durch die Massenmedien, als das in Europa der Fall ist. Aber man weiß nicht, und aus Diskussionen mit interessanterweise jüdischen Freunden, hat man das Gefühl, da ist ein Firnis. Man weiß nie, wann das irgendwo einmal einbricht. Es ist also außerordentlich schwer zu übersehen, ob die Schicht der US-amerikanischen Uniformität in Meinung, diese Schmelztigel-Ideologie nun langsam nachgibt in Bezug auf spanisch sprechende Elemente, spanische Schulen u.s.w. Pluralismus, political correctness und all diese Dinge. Wieweit das nur Anzeichen von einem kommenden, wirklichen Pluralismus sind, ist schwer zu sagen. In Europa sieht das sehr anders aus. Da ist das Problem eher, daß wir politisch gesehen, nicht regierungsfähige und auch nicht regierungswillige Minoritäten kriegen, die einfach ihr Programm vorstellen und damit Prozente der Wählerschaft bekommen und die Parteien, die ein Wahlprogramm haben letztlich auf eine Koalition hindrängen. Daß wir so eine Art italienische demokratia vokrata kriegen. Industrie und Arbeit machen die Politik und dann gibt es noch nationale und ökonomische, oder friedens-, oder was auch immer bewegte Leute, die Prozentpunkte haben, aber keine Opposition bilden können, die irgendwann einmal die Regierung übernehmen soll. Das zeichnet sich in Italien ja auch ab, mit den lege-Bewegungen in Norditalien und dem relativ deutlichen Aufkommen der Neofaschisten. Was mit dem alten Faschismus natürlich nur wenig zu tun hat, aber auch wieder Aussichten hat die alten Parteien abzulösen.
"speak": Sehen Sie in dem Erbe an alteuropäischer Tradition eine Gefahr für die sozialen und politischen Systeme der modernen Staaten? Birgt beispielsweise die historische Genese sozialer und politischer Strukturen der BRD-Gesellschaft nicht einen hohen Grad an Irrationalität in sich, der gefährliche Wirkungen haben könnte? Ich denke an irrationale Bewußtseinselemente, die in der Sprache wurzeln oder in ritualisierten Kultur-Praktiken angelegt sind?
Niklas Luhmann: Zuerst mal würde ich sagen, der europäische Nationalismus ist eine Folge des Buchdrucks. Die einheitlichen Nationalsprachen sind ja erst durch den Buchdruck entstanden. In Russland relativ spät. In Frankreich früher. In Deutschland mit Bibelübersetzungen und dergleichen. Aber ich wüßte nicht weshalb das irrational sein sollte.
Wenn man alles unter ökonomischen Gesichtspunkten sieht, würde man sagen, die ökonomische Politik kann sinnvollerweise unter heutigen Weltbedingungen keine nationale Politik sein.
Wenn man es unter Einwanderungsgesichtspunkten sieht, ist es schon wieder eine andere Frage. In Italien gibt es eine Stadt wie Modena, 60-65.000 Einwohner und über 10.000 Extrakommendita, also Leute aus Afrika. Da sind Probleme, die sicherlich den Nationalismus fördern, die aber sicherlich auch wirklich echte politische Probleme sind. Da stellt sich schon die Frage, ob man die Leute nicht in ihrem eigenen Land mit Arbeit und Industrieaufträgen fördert, als sie zur Migration zu führen.
Insofern denke ich nicht, daß die Idee einer nationalen Einheit irrational ist. Umso mehr auch, daß man sich ja gar nicht vorstellen könnte, daß weltweit ein Weltstaat entsteht und dann die Chinesen die Dänen dauernd überstimmen würden.
Gerade um Demokratie zu haben müßte man lokale Einheiten haben, um Homogenität der Meinungen und Konsense zu ermöglichen, wenn es eine Mehrheitsdemokratie sein soll.
Also es ist einfach ein anderes Konzept von Politik, daß man nicht von vornherein als irrational verurteilen soll.
Wir Deutsche neigen ja mehr als irgendein anderes Volk dazu, Nationalismus für irrational zu halten und haben geschichtliche Gründe dafür.
"speak": In der Linken wird aktuell darüber gestritten, ob es einen bestimmten deutschen Nationalcharakter geben kann, als Ursache, oder mögliche Ursache eines neuen bzw. eines zu befürchtenden Rassismus.
Niklas Luhmann: Ich denke, das ist ein reines Kommunikationsproblem, also Sprachproblem und das Bedürfnis gerade in Massenmedien lokale Nachrichten gegenüber fremden zu bevorzugen. Also wenn die Deutschen irgendwo gewinnen oder beim Bergsteigen verunglücken wird das in Deutschland erwähnt, nicht aber in den USA. Ich denke, das ist keine Frage der psychologischen Einstellung, sondern eine Frage der Kommunikation und speziell der massenmedialen Kommunikation.
"speak": Gibt es für Sie so etwas wie ein Leitmedium zur Zeit?
Niklas Luhmann: Nein. Man muß unterscheiden: Verbreitungsmedien wie Fernsehen, Buchdruck etc. sind nicht zu vergleichen mit Medien, die bestimmte Erfolge erzeugen wie Geld. Für Geld kriegt man was. Mit Macht kann man etwas erzwingen. Mit Liebe kann man die eigenen Eigentümlichkeiten pflegen und dafür Verständnis finden. Also es gibt diese Art von Medien. Und da ist eigentlich eher die Differenzierung auffällig und nicht so sehr die Dominanz. Die Interdependenzen sind immer sehr viel größer. An wirtschaftlichen Problemen scheitern manche Ehen. Andererseits kann man nicht von Dominanz sprechen, denn man wird ja nicht alles am Geld messen wollen.
"speak": Sehen Sie fern?
Niklas Luhmann: Kaum. Außer im Ausland, wenn ich mich an eine Sprache, z.B. Portugiesisch gewöhnen muß. Oder an Englisch. Zuhause habe ich keinen Apparat.
"speak": Denken Sie nicht, daß das Fernsehen als Medium eine wichtige Informationsquelle gerade für die Soziologie sein könnte?
Niklas Luhmann: Ja gut. Das stimmt. Doch doch. Aber das ist zu zeitaufwendig. Vor allem: Es wird ja immer nur dann gesendet, wenn gesendet wird und nicht, wenn ich Zeit habe. Aber gar keine Frage. Diese Integration von Bild, Sprache, die Totalsicht, die möglicherweise manipuliert ist, wenn ich auf der anderen Seite bei Fernsehfilmen mitwirke, natürlich das Sendungsbewußtsein nachher, man darf nicht länger reden als eine Minute etc. – also es manipuliert auf der einen Seite und vermittelt einen Totaleindruck, von dem man Manipulation nicht wieder herausdividieren kann als Zuschauer – also das sind schon Phänomene, ohne die Gesellschaft wahrscheinlich nicht die wäre, die wir heute haben.
"speak": Das war eben auch meine erste Assoziation während Ihres gestrigen Referats, als ich den Ausdruck Weltgesellschaft hörte. In dem Moment, als ein bürgerliches Bedürfnis nach Büchern auftaucht, daraufhin ein Buchmarkt, spricht man plötzlich auch von Weltliteratur und mit der allgemeinen Verbreitun des Fernsehens –
Niklas Luhmann: Die Überzeugungskraft der Bilder und die sofortige Verfügbarkeit weltweit. Den Kohl in Moskau 91 habe ich in Brisbane gesehen und zwar mit British Breakfast News. Und ich wußte immer nicht, wieso es in Moskau jetzt Nacht ist. Ist es die letzte Nacht? Die British Breakfast News kamen um 18 Uhr abends in Brisbane an. Diese Zeiteinheit – also in Moskau springen Leute auf tanks und auch das Bewusstsein, die Welt schaut zu – das ist schon eindrucksvoll.
"speak": Können Sie zum Abschluß einige Prognosen für kommende Entwicklungen von Gesellschaften versuchen?
Niklas Luhmann: Nein. Eigentlich nicht. Ich nehme an, daß in vielen Bereichen und zwar in der Ökonomie und in der Politik die Situation prekärer wird. Und das heißt auch: abhängiger von Zufällen. Von einem Zufall wie Gorbachow, von einzelnen Personen. Oder von einzelnen Ereignissen wie Tschernobyl oder was immer.
Ich glaube es gibt keine Entwicklungslogik, die Trends auszeichnet, sondern eher ein Überdrehen der Normalisierung von an sich unwahrscheinlichen Instabilitäten, die dann von Zufällen abhängen. Und zugleich hohe Kapazitäten des Ausgleichs.
Also einen solchen Crash wie 1929 werden wir so nicht wieder haben. Aber dafür vielleicht ganz andere Formen.
Eher würde ich meinen, daß das Unvorhersehbare vorauszusehen ist und die Frage wie man also Ressourcen des Abfangens von Katastrophen, wenn man das Katastrophen nennen will, wie man das behandelt, wie man das organisatorisch zur Verfügung stellen kann, ist eines der Probleme.
"speak": Glauben Sie, daß die Menschheit mit der Instabilität zurecht kommt?
Niklas Luhmann: Ja was sollte sie denn sonst tun?
"speak": Die Gefahrenpotentiale könnten nicht mehr zu bewältigen sein?
Niklas Luhmann: Eine solche Frage hat nur Sinn, wenn man sich vorstellen könnte, es könnte irgendetwas anderes geschehen außer Katastrophen. Und ich wüßte nicht, was anderes geschehen könnte als das, was sich so abzeichnet an ökonomischer Konzentration, an juristischem raschen Umschlag von Formeln und Begründungen, an politischer Instabilität, die aber über Wahlen im Moment noch abgefangen werden kann.
Aber ich halte mich eigentlich in Bezug auf Prognosen zurück.
Die Soziologie hat Entwicklungen nicht vorausgesehen. Weder die Jugendbewegung in den sechziger Jahren, überhaupt die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen, noch den Zusammenbruch des Ostregimes. Also die wichtigen Dinge kamen überraschend, und das ist vielleicht weniger eine Frage mangelnder Kompetenz der Forscher, sondern eine Frage der Struktur der Gesellschaft. Wir müssen überraschende Strukturänderungen verkraften, die durch Zufälle ausgelöst sind.
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Zur Entstehung und den Umständen:
Im Sommer 1994 baten wir Niklas Luhmann in München am Ende seiner Gastvorlesung in einem Hörsaal der LMU um ein Interview. Der Professor war einverstanden und lud uns ein, ihn am darauf folgenden Nachmittag in seinem Hotel, einer kleinen Pension am Siegestor, zu besuchen. Die Fragen ("speak") stellten Andreas Otteneder und Hermann Schubert.
Der einige Monate nach der Gesprächsaufzeichnung transkribierte Text wird hier erstmals veröffentlicht.
Alle Nutzungs- und Verwertungsrechte bei Andreas Otteneder (THE GREAT GATE) und Hermann Schubert.
Weiter führende Hinweise:
Niklas Luhmann: wikipedia
Talcott Parsons: wikipedia
Douglass C. North: wikipedia
„speak“: basis buchhandlung
Andreas Otteneder: THE GREAT GATE
"speak": Herr Professor, als Erstes würden wir gerne wissen, was Sie dazu bewogen hat, nach Ihrer beruflichen Tätigkeit als Jurist ausgerechnet die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin zu wählen?
Niklas Luhmann: Ja. Also es gab erste Kontakte während des Studiums über Eduard Baumgartner, das war ein Max Weber Schüler in Freiburg, 48/49, und dann konkret eigentlich die Frage, ob ich weiter als Verwaltungsbeamter, als Jurist, tätig sein sollte, wie die Karriereaussichten sind, und wenn ich mich entschließen sollte in die Universität zu gehen, ob dann nicht als Jurist, sondern als Soziologe, um mir eine breite Wahl von Themen offen zu halten.
"speak": In welchem Bereich der Verwaltung waren Sie tätig?
Niklas Luhmann: Im Kultusministerium in Hannover.
"speak“: Inwieweit hat Sie diese Beschäftigung in Ihren späteren Arbeiten als Soziologe beeinflusst?
Niklas Luhmann: Ja eigentlich indirekt, insofern die wirklichen Vorgänge ja nicht rein juristische waren. Ich meine, man mußte das Handwerkszeug beherrschen. Aber um zu verstehen was vor sich ging und um Einfluß zu haben, mußte man andere, soziale Faktoren berücksichtigen und nicht nur die Frage, welche Auslegung der Texte die zutreffende ist.
Aber eigentlich war es eher Lektüre und dann ein Kontakt mit Talcott Parsons. Ich habe mich beurlauben lassen ein paar Jahre. Und das hat dann von der fachlichen Seite eher den Ausschlag gegeben als meine konkreten Erfahrungen innerhalb der Politik.
"speak": Ihr Einstieg in die Soziologie folgte also einem externen Impuls. Es gab kein Problemfeld, das Ihnen in der juristischen Praxis begegnet war und Sie veranlaßt hätte –
Niklas Luhmann: Nein. Höchstens in den ersten Publikationen, in den ersten Forschungsrichtungen. Da hat natürlich das Administrative, Politische, Juristische, Organisatorische eine dominierende Rolle gespielt, weil ich mich da auskannte.
"speak": Wenn Sie auf Ihre Arbeit als Soziologe zurückschauen. In welcher Tradition können Sie sich wieder erkennen? Fühlten Sie sich der Aufklärung verpflichtet oder einer kritischen Theorie, oder betrachten Sie die Systemtheorie, die ja sehr eng mit dem Namen Luhmann verbunden ist, in einem ganz anderen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext?
Niklas Luhmann: Eigentlich das Letztere. Das heißt: Ich denke, daß die Entwicklungen in der Systemtheorie heute das eigentlich intellektuell faszinierende sind und die Soziologie davon lernen kann und sich deshalb von ihren Traditionen inklusive Parsons abkoppeln muß. Insofern ist es eigentlich keine soziologische Vorgeschichte, die ich erzählen würde, wenn ich sozusagen Ahnenforschung betreiben sollte.
"speak": Jürgen Habermas, mit dem Sie in den 70er Jahren eine ausführliche Debatte über Sinn und Zweck soziologischer Forschung und wissenschaftlicher Theoriebildung überhaupt geführt hatten, stellte Sie damals in eine Reihe mit Theoretikern, die salopp gesagt einem rechtskonservativen Flügel zuzuordnen sind: z.B. Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky. Sehen Sie sich da richtig positioniert, was Ihren philosophischen Hintergrund betrifft?
Niklas Luhmann: Nein. Ich würde dem nicht zustimmen. Und ich bin auch im Zweifel, inwieweit diese Auffassung auch heute noch Resonanz findet. Ich weiß nicht mal, inwieweit Habermas das so wiederholen würde.
Aber es gibt eine eigentümliche begriffliche Radikalität in der Systemtheorie, die sich nicht gleichsam deckungsgleich auf vorhandene gesellschaftliche Realität abbilden läßt, sondern eher automatisch eigentlich, dann auch wieder kritisch oder auflösend – wie immer man das nennen möchte – wirken würde.
"speak": Wenn ich Habermas, der sich ja dezidiert als Erbe oder Fortsetzer dessen betrachtet, was kritische Theorie einmal gewesen ist, richtig verstanden habe, sieht er in Ihnen doch den Vertreter einer Position, die jener Aufklärung, die in seinem wissenschaftlichen Programmen als geschichtliche Aufgabenstellung projektiert wird, unversöhnlich entgegen steht. Die Systemtheorie als Erklärungsmodell gesellschaftlicher Entwicklung gilt ihm ja geradezu als Gegenbild der in seiner Arbeit versuchten Aufklärung.
Niklas Luhmann: Ja. Das hängt damit zusammen, daß Habermas die Moderne von der Aufklärung, von Kant her – eigentlich nicht so sehr von Adorno her – jedenfalls vom 18. Jahrhundert her versteht, und da eine antimodernistische Tendenz sieht, wenn das dann die Moderne gewesen ist oder sein soll oder trotz allem bleiben soll.
Die Front ergibt sich, da ich nicht an eine Vernunftaufklärung glaube.
Ich glaube nicht, daß die Gesellschaft nach irgendwelchen Vernunftprinzipien geordnet werden könnte, und glaube auch nicht, daß sich das in Sprachtheorie umsetzen läßt, was ja Habermas eigentlicher Kernpunkt ist. Und insofern gibt es diese Gegnerschaft.
Und wenn Habermas sich als modern, progressiv, oder kritisch versteht, dann gehöre ich eben auf die andere Seite.
Aber das besagt eigentlich gar nichts über meine eigentlichen Intentionen.
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"speak": Auf welche Realitäten reagiert die Systemtheorie, welche Probleme versucht sie zu lösen? Wo lagen die Motive, einen systemtheoretischen Ansatz zu entwickeln?
Niklas Luhmann: Ich glaube nicht, daß es spezifische Probleme sind, weil einer der Kernbestandteile die Vorstellung ist, daß eine Gesellschaft über funktional ausdifferenzierte Systeme beschrieben werden sollte.
Das heißt: Die Systemtheorie hat ja je nach dem Funktionssystem, auf das sie angewendet werden sollte, sehr verschiedene Arten von Problemen: ökonomische, politische, oder wissenschaftliche.
Oder Probleme in Intimbeziehungen, in der Religion.
Oder was auch immer sie behandeln muß.
Und die Intention ist gerade die, eine Vergleichbarkeit herzustellen über so verschiedene Gebiete. Deswegen ja auch die Abstraktion des Vokabulars.
"speak": Die Systemtheorie ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Können Sie Realitäten oder Brüche in bis dahin gültigen Traditionen angeben, womöglich historische Ereignisse, auf die die Systemtheorie als paradigmatisches Wissensmodell rekuriert und den wissenschaftlichen Neuansatz notwendig erscheinen ließ?
Niklas Luhmann: Ich denke, daß die wesentlichen Impulse bisher nicht von der Soziologie ausgegangen sind und insofern auch nicht mit bestimmten gesellschaftlichen Erfahrungen verbunden waren.
Sondern das war in der allgemeinen Systemtheorie das Entropieproblem und die Frage, wie man Ordnung – wie die Naturwissenschaftler heute sagen – fernab vom Gleichgewicht, d.h. fernab von der Auflösung aller Differenzen hin zu einer entropischen Situation – wie man die erklären kann.
Und im Wesentlichen kopiert die Systemtheorie dieses Problem.
Also wie kann man Gesellschaft erklären?
Sie kommt dann zu dem Punkt, daß wir an sich von extrem unwahrscheinlichen Bedingungen ausgehen, die normalisiert haben, sodaß wir wieder zurück gehen müssen auf ein Verständnis der Unwahrscheinlichkeit oder einer riskierten Geldwirtschaft oder personalisierten Intimbeziehungen.
"speak": Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie also, daß die neuen Impulse aus der Wissenschaftstheorie selbst gekommen waren?
Niklas Luhmann: Aus der Systemtheorie. Das wird nicht unbedingt eine Wissenschaftstheorie sein.
"speak": Soweit ich Ihren bisherigen Ausführungen folgen konnte, klingt es, als sei die Systemtheorie sozusagen zur Aufarbeitung der in den Naturwissenschaften lose vagabundierenden Modellansätze erfolgt.
Könnten Sie abseits der Entwicklung in den Wissenschaften historische Ereignisse, Zäsuren, Präzedenzen angeben, die für Sie ein systemtheoretisches Paradigma erforderlich oder notwendig erscheinen lassen?
Niklas Luhmann: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, beziehen Sie sich jetzt auf die Gesellschaft und nicht auf die allgemeine Systemtheorie. Das ist natürlich ein wichtiger Unterschied.
Die allgemeine Systemtheorie hat eben bestimmte naturwissenschaftliche, eben auch mathematische Probleme. Das Problem der Dominanz von Gleichgewichtsmodellen, das Zeitproblem u.s.w. Das ist die eine Sache.
Wenn man die Gesellschaft mit entsprechenden Theorien selbstreferenzieller Systeme beschreiben will, ist das zunächst einmal eine rein intellektuelle Unternehmung, eine wissenschaftliche, eine soziologische, die natürlich auch auf soziologieinterne Probleme reagiert.
Die zum Beispiel die Welle einer optimistischen Modernisierungssystematik nicht mitmacht, die in den späten 50er und frühen 60er Jahren üblich war.
Und auch den marxistischen Trend nicht mitmacht und dadurch über den Wechsel solcher Moden hinaus eine gewisse Stabilität hat.
Das ist meine Vorstellung: Man müßte eine Gesellschaftsbeschreibung anfertigen, die endlich komplex genug ist, um der Moderne gerecht zu werden.
Aber die Anlässe dafür sind dann eher der Eindruck, daß wir noch gar nicht genügend wissen und nachgearbeitet haben, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben, oder mit welcher Gesellschaft unser Schicksal verbunden ist.
Und diese Aufgabe ergibt sich in gewisser Weise aus der Unzulänglichkeit von bisherigen Beschreibungsversuchen, aber nicht aus spektakulären Ereignissen.
Man könnte höchstens sagen, daß das ökologische Interesse sehr stark mit einem systemtheoretischen Instrument aufgegriffen werden kann, weil die Systemtheorie automatisch System-, Umwelttheorie ist, also nicht die Gesellschaft dialektisch oder Entropien aus ihren eigenen Dynamiken heraus beschreibt, sondern immer in Differenz zur Umwelt sieht.
Und insofern hat es die Systemtheorie besonders leicht aktuelle Interessen aufzugreifen. Das gilt auch für das Verhältnis von Zeit und Risiko – auch wieder Thematiken, die jetzt wieder modern sind.
Aber es sind eigentlich nicht spektakuläre gesellschaftliche Anlässe wie Tschernobyl oder der Zusammenbruch des Marxismus. Oder die Ölpreiskrise oder was auch immer.
Das sind Sachen, die dann nachgearbeitet werden können, wenn sie empirisch klar sind.
"speak": Folgen aus der Systemtheorie praktische Handlungsanweisungen? Mit Hilfe eines deterministischen Erklärungsmodells läßt sich zumindest aussagen, dass, wenn der Zins steigt beispielsweise, Folgendes passieren wird. Gilt für die Systemtheorie Ähnliches? Kann man sagen, weil das marxistische Denken nicht funktionieren kann, genauso wenig ein rein evolutionäres, ist es vernünftiger systemtheoretisch vorzugehen? Mit anderen Worten: Worin besteht der produktive Wert der Systemtheorie? Für welche gesellschaftlichen Probleme kann sie Lösungen vorschlagen?
Niklas Luhmann: Also die Systemtheorie ist sicher keine kausalistische Theorie. Schon deshalb nicht, weil man sonst Politik in die Wissenschaft mit einbeziehen würde.
Wenn man sagen würde, wie es richtig gemacht werden sollte, würde man ja Politik machen, eine Art technokratische Vorstellung haben.
Das ist sicher nicht der Fall und wird auch durch die Gesellschaftstheorie selber schon desavuiert, indem sie Politik oder auch Intimbeziehungen oder Religion oder Wirtschaft als eigene Systeme beschreibt, die von der Wissenschaft aus nicht gesteuert werden können.
Aber es gibt natürlich Veränderungen in den typischen Problemstellungen. Und das kann man relativ deutlich spezifizieren. Wenn Sie z.B. die Probleme der Arbeitslosigkeit, der massenhaften Entlassungen in Europa sehen, dann kann man die Frage stellen: Ist das ein Effekt von Konjunktureinbrüchen? Müssen wir das zwei, drei Jahre durchhalten oder hat das strukturelle Gründe?
Und da würde man vielleicht sagen, daß in der modernen Gesellschaft das Interesse an der Unternehmenserhaltung und das Interesse an Vermögenserhaltung auseinander laufen. Wenn ich mein Vermögen halten will, kann ich nicht mein Unternehmen halten.
Und das ist auch völlig antimarxistisch gedacht. Ich habe mein Vermögen nicht im Unternehmen. Mein Vermögen fließt je nachdem, wo es angelegt werden soll. Und das Unternehmen ist eine andere Sache.
Wenn man diese Tendenz beobachtet – und das läßt sich systemtheoretisch aufhängen – hat man natürlich ganz andere Vorstellungen in Bezug auf Politik und in Bezug auf öffentliche Meinung auch und in Bezug auf Weltkonstellationen, auf das Verlagern von Produktion in Billiglohnländer und dergleichen, als man sie hätte, wenn man sie nur konjunkturspezifisch sieht.
Daraus folgt noch keine Handlungsanweisung. Aber ich denke, die Art wie man sich vor Probleme stellt ist der Schritt von dem aus man es der Wirtschaft oder der Politik überlassen kann, Konsequenzen zu ziehen.
"speak": Sehen Sie in der Entwicklung der Systemtheorie auch einen Übergang von technischem Wissen zu Wissenstechnologie?
Niklas Luhmann: Nein. Eigentlich nicht. Das ist durch die Selbstreferenzkybernetik eigentlich unterbrochen. Wenn man Input-Output-Modelle hat, also Input und eine mathematische Funktion oder eine Maschine, die das in Output transformiert, dann hat man ein Technikmodell. Wenn es nicht funktioniert, muß die Maschine repariert werden oder die mathematische Formel war falsch.
Mit der Ersetzung dieses Input-Output-Modells durch eine selbstreferenzielle Konzeption von Maschine – oder manche sagen Mathematik – ist es aus (man kann es auch in Organisationstheorien übersetzen), denn dadurch explodieren gleichsam die Möglichkeiten. Die Mathematik sagt nur: Es ist unberechenbar.
Es kommt auf die historische Situation an, in der ein System sich findet, um mit Bezug auf sich selber nächste Schritte wählen zu können.
Und das macht es für einen Außenbeobachter unberechenbar.
Aber man kann es natürlich verstehen und beschreiben.
Das liegt ja auch in der Chaostheorie, in der Bregorschinschen Theorie desintegrativer Strukturen u.s.w., daß man das Unvorhersehbare vorhersehen kann, also Theorien bildet, die das mit einschließen.
Insofern ist es also keine technisch affine Theorie, obwohl Technik als Phänomen natürlich eine Rolle spielt.
"speak": Gibt es für Sie Ursachen von Evolution oder überhaupt Evolution in einem gegenständlichen Sinn?
Niklas Luhmann: Ja. Es gibt deutliche Tendenzen Evolutionstheorie und Systemtheorie zu verbinden. Also nicht zwischen statischen und dynamischen Modellen hin und herzupendeln wie in der Tradition, sondern die Systemtheorie so zu bauen, daß die Evolutionsfähigkeit von Systemen in die Systemtheorie schon eingeschlossen ist und umgekehrt die Evolutionstheorie so zu bauen, daß man einen systemtheoretischen Apparat braucht, um erklären zu können, wieso etwas evoluieren kann.
Aber das werden keine Prozesstheorien sein, sondern eher Theorien unwahrscheinlicher Strukturänderungen. Also wie kommt es zur Erfindung von gemünztem Geld? Wie kommt es zur Sprache? Wie kommt es zur Änderung staatlicher Strukturen? Wie kommt es zu Film, zu beweglichen und akustisch synchronisierten Bildern? Und welche Konsequenzen hat das? Da kann man nicht von Planungstheorien ausgehen. Auch nicht von Entwicklungstheorien, so als ob am Anfang schon entschieden wäre, daß das irgendwann einmal kommen muß. Sondern da ist dann Evolutionstheorie eigentlich der Apparat, der heute angeboten wird. Also eine Theorie, die auf Variation, Variationsempfindlichkeit, Irritabilität sozusagen, Selektion und dann Stabilisierung und neuer Variation aufgebaut ist.
Diese Entscheidung ist dominant und nicht die Epochenunterscheidung.
Da gibt es einige Tendenzen in der Biologie, aber auch in der ökonomischen Evolutionstheorie, die in diese Richtung gehen.
"speak": Für den Ökonomen North, der 1993 den Nobelpreis in den Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, zeigen sich evolutive Entwicklungen ökonomischer Systeme in einer von technischen Neuerungen und entsprechender ideologischer Ausrichtung entfalteten Matrix.
Niklas Luhmann: Evolution läßt sich zurückführen auf eine Trennung und Zufallskombination von Variation, Selektion und Restabilisierung. Aber es ist keine gesetzmäßige oder auch nur wahrscheinliche Kausalität, sondern es geht eher um eine Normalisierung des Unwahrscheinlichen.
Und Technik spielt dabei natürlich eine Rolle. Schon Schrift kann man ja als Technik betrachten. Dann den Buchdruck natürlich, um sehr weit reichende Veränderungen zu erwähnen. Und natürlich ist die gesamte Technikabhängigkeit der modernen Gesellschaft evolutionär entstanden und nicht planmäßig.
Wir wollten uns gar nicht so abhängig machen vom Funktionieren der Technik oder auch von Geld. Ich meine gemünztes Geld und quantitativ zerstückelbare Werteinheiten.
"speak": Ist der systemtheoretische Versuch Gesellschaft zu beschreiben einer, der die Voraussetzungslosigkeit seiner theoretischen Annahmen unterstellt?
Niklas Luhmann: Nein. Voraussetzungslos würde ich nicht sagen.
Man muß immer ein Beobachtungsinstrument haben. Und man muß sehen, daß wenn man andere Begriffe bildet, wenn man andere Dinge, andere Phänomene beschreibt, wenn man nicht von System und Umwelt ausgeht, sondern ein dialektisches Modell hätte, dann würde man eine andere Gesellschaft beschreiben, ein anderes Objekt konstruieren.
Insofern ist in die Systemtheorie gerade das Bewußtsein der eigenen Architektur sehr stark eingearbeitet.
Und das ist auch einer der Punkte, wo man sich mit Philosophen sicher rascher verständigen kann als mit normalen Soziologen.
Weil die Philosphen – wenigstens seit Kant – immer ein deutliches Architekturbewußtsein hatten in Bezug auf das, was die Eigenarten einer bestimmten Konstruktion ausmacht.
Also voraussetzungslos sicherlich nicht. Aber es ist eben eine Beschreibung, die, wenn man wissenschaftstheoretisch argumentiert, man am besten als konstruktivistisch auffassen würde.
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"speak": Welchen Adressaten gibt es für Sie in Ihrer Arbeit als Soziologe?
Niklas Luhmann: Das ist ziemlich diffus eigentlich, denke ich. Und das ist regional sehr unterschiedlich, also in Deutschland ganz anders als in Italien. In USA ganz anders als in Mexiko oder in Brasilien und in Japan.
Ich denke, daß es Viele, insbesondere in der jüngeren Generation gibt, die das Gefühl haben, sie hätten kein zureichendes Bewußtsein in Bezug auf die Gesellschaft in der wir leben.
Und ich denke auch, daß es Theorieinteressen gibt, die besser bedient werden könnten als das normalerweise geschieht.
Aber das läßt sich schwer in irgendwelche festen Gruppen einbauen, und es ist eben, was die Kontakte angeht, regional außerordentlich verschieden.
Also in Brasilien sind es ursprünglich eher Juristen gewesen aus irgendwelchen Zufällen. In Japan zunächst auch. Und dann erst die Soziologen. In USA sind es jetzt Literaturwissenschaftler.
"speak": Sie ersparen uns die Überleitung zur nächsten Frage. Wo sehen Sie hauptsächlich die Bedeutungsfunktion systemtheoretischer Aussagen oder der Systemtheorie überhaupt?
Sehen Sie sich eher als Produzent eines speziellen Genres von Literatur oder als jemanden, der in einen Forschungsprozess eingebunden ist und mit seinen Texten mehr oder andere Ansprüche verknüpft, als ein, ich sag mal gewöhnlicher Autor?
Niklas Luhmann: Also ich würde mal sagen. Es ist deutlich Forschungsliteratur. Was nicht heißt, daß Formulierungen – oder sagen wir mal – man kann sich bei theoretischen Schwierigkeiten mit besonders eleganten Formulierungen helfen.
Insofern ist das Literarische und das Theoretische nicht ganz zu trennen.
Auch Übersetzungsprobleme sind im Wesentlichen auch Probleme der Eleganz, die das Lesen erleichtert.
Aber von der Intention ist es ganz deutlich das Skizzieren und Ausbauen einer Theorie, also ein Forschungsinteresse. Und das andere ist nur Instrument.
"speak": Wo verläuft für Sie die Grenze, die einen literarischen Text von einem Text unterscheidet, der den Anspruch erhebt eine wissenschaftliche Theorie oder Ergebnisse dahingehender Forschung zu vermitteln?
Niklas Luhmann: Schon Literatur ist kein einheitlicher Begriff. Wenn man Dichtung, Poesie einerseits nimmt und daneben dann den Roman, dann hat man völlig andere Vorstellungen von Literatur. Da stellt sich die Frage nach der Fiktionalität.
"speak": Den klassischen Wahrheitsanspruch von Wissenschaft stellt ja die Systemtheorie radikal in Frage. Auf welcher Ebene kann dann aber die Unterscheidung Fiktion Non-Fiktion vermittelt werden?
Niklas Luhmann: Wenn es um Übereinstimmung mit einer vorhandenen Realität geht. Aber deshalb gibt es trotzdem Bewährungskriterien für Aussagen innerhalb der Theorie. Das sind Konsistenzzwänge.
Wenn ich den Begriff Autopoiesis setze, muß ich andere Begriffe anpassen. Auf der begrifflichen Ebene ist das so ähnlich wie wenn man ein Kunstwerk macht, eine Fuge. Es braucht ja nicht Literatur zu sein. Es muß eine gewisse Stimmigkeit hergestellt werden. Wenn das ein sehr abstraktes Kriterium des Vergleichs ist, würde ich schon sagen, daß ein Architekturbewußtsein, das Bewußtsein was zu was paßt, Ähnlichkeiten hat mit der Produktion von Kunstwerken. Aber natürlich sind die Kriterien nachher andere.
"speak": Welche Wissenschaften haben Sie abseits der Soziologie am meisten interessiert? Gibt es da Präferenzen?
Niklas Luhmann: Das wechselt sehr stark. Natürlich sind es geschichtliche Dinge. Obwohl mich die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen nur zu den Quellen hinführt, aber nicht in sich selbst interessant ist. Eigentlich je nach dem Bereich, um den es geht. Wenn es um Religionssoziologie geht, muß man mit Theologen Kontakt haben. Wenn es um Rechtssoziologie geht, ist das Funktionieren der juristischen Entscheidungspraxis unentbehrlich. Und dann hat man eben die entsprechende Literatur dazu.
"speak": Bemerken Sie als Soziologe einen Tendenzwechsel oder einen Stimmungswandel in der BRD-Gesellschaft seit dem Fall der Mauer?
Niklas Luhmann: Ich würde zwei Ebenen unterscheiden: Einerseits gibt es sicherlich in der öffentlichen Meinung, also dort, wo über Stimmungen berichtet wird, einen deutlich pessimistischen, skeptischen, enttäuschten Ton. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dieses Bild sich so rückprojizieren ließe, wenn man mit Umfragen in die Bevölkerung gehen würde. Oder ob nicht alle sagen: Ja es ist nicht so gut, es geht bergab mit der Wirtschaft, mit der Arbeit u.s.w., aber mir persönlich gehts eigentlich ganz gut.
Es ist die Frage inwieweit ein Meinungsbild erzeugt wird, daß dann als Meinungsbild, als Klischee funktioniert. Was der Einzelne aus eigener Erfahrung sagen kann ist noch etwas sehr verschiedenes. Und da kommt man nur ran, wenn man aufsplittet nach Generationen oder Wohnsitz u.s.w.
"speak": Gewinnen nationalistische Strömungen nicht mehr und mehr an Bedeutung? Wenn die Leute so zufrieden wären wie Sie sagen, woher kommt dann dieser beinah an Snapping erinnernde Nationalismus, der – zugegeben – freilich nicht nur ein deutsches Phänomen ist?
Niklas Luhmann: Es gibt generelle Tendenzen. Ich bin mir nicht sicher, ob man den Nationalismus in dem breiten Sinne da hinzuordnen kann. Aber es gibt generelle Tendenzen sich gegen die Globalisierungseffekte, gegen den raschen Wechsel von Abhängigkeiten, wenn ich so sagen darf, zur Wehr zu setzen und irgendwo Identität zu suchen. Denn irgendwas muß ich doch sein und irgendwofür muß ich mich doch einsetzen. Und irgendwas darf doch nicht morgen schon wieder überholt sein. Und da bieten sich teils religiöse Fundamentalismen an, teils nationale, oder ethnische, die dann immer auf Differenz bedacht sind. Also: Die Russen sind keine Ukrainer oder keine Kirgisen u.s.w. Also es gibt diese Tendenzen, die Globalisierung zu durchbrechen durch Unterscheidung.
"speak": Inwieweit halten Sie diese sozusagen antimodernistischen Tendenzen innerhalb einer Gesellschaft für ideologisch virulent? Und gesetzt den Fall, die Sehnsucht nach Identität durch Abgrenzung, läßt sich in einer Ideologie vermitteln: Könnte das bestehende soziale und politische Systeme erschüttern oder handelt es sich lediglich um psychologische Begleiterscheinungen, die die bestehenden sozialen und politischen Systeme nicht nachhaltig gefährden können?
Niklas Luhmann: Ich nehme an, daß der Test in der Ökonomie liegt, letztlich. Und daß die Frage, wieweit man nationalistische Tendenzen angesichts von wirtschaftlichen Problemen durchhalten kann, die eigentliche Testfrage werden wird.
Ich war während des Unabhängigkeitsplebiszits in Kroatien, vorher in Slowenien. In Slowenien war alles ökonomisch kalkuliert. Wenn wir selbstständig sind, was macht unser Außenhandel mit dem früheren Jugoslawien? Können wir den ersetzen, auf Firmenkontakt, auf Staatskontakt? Die ganze Diskussion lief völlig ökonomisch. In Kroatien spielte das überhaupt keine Rolle. Daß Kroatien ökonomisch als Kleinland so nicht reüssieren kann, interessierte sie gar nicht. Wir müssen erst mal die politische Selbstständigkeit sichern und uns gegen Serbien verteidigen. Und die Frage ist, inwieweit ökonomische Rücksichtslosigkeit auch nach dem Muster Slowakei – es gibt da viele, viele Beispiele – in größeren Blöcken wieder aufgefangen werden muß, oder wieweit das dann einfach eine Hungerstrecke bedeutet und eine Rückentwicklung in – um die Slowakei als Beispiel zu nehmen - einstmals stark industrialisierten Ländern.
Und wenn man mit Südamerika vergleicht: Da habe ich auch den Eindruck, daß die Komponente Militär, oder Einheitspartei, Nation und Anti-USA-Politik und internationale Abschottung, eigene Autos, eigene Wirtschaft etc., daß dies zurückgebaut wird. Und daß das einen Zusammenhang hat mit der Unmöglichkeit der Militärs eine andere ökonomische Politik zu haben als eine Zivilregierung haben würde. Es gibt also diesen Zusammenhang. Und ich vermute, daß die ökonomischen Interessen der Bevölkerung so stark sind, daß eine militärische, eine nationalistische Politik mit jeglichen dauerhaften ökonomischen Belastungen nicht wird durchhalten können.
"speak": Auch in der angestrebten politischen Union der EG-Staaten könnte man einen Supranationalismus am Werk sehen, der versucht, sich abzuschotten und daran scheitert, daß sich Nationalismus und Marktwirtschaft nicht vereinbaren lassen.
Niklas Luhmann: Das liegt zum einen sicher am Primat der organisatorischen Vereinheitlichung und dem Einwirken der Industrie und regionaler Interessen auf die Organisation direkt, ohne politische Vermittlung. Und das wird in ein europaeigenes Rechtssystem überführt werden. Aber das wirkt ja tendenziell auf die Idee Europa eher negativ. Ich vermute, daß die starke organisatorische und juristische Komponente der Vereinheitlichung eher den Optimismus der 50er Jahre, die Idee Europa ruinieren wird und damit auch eigentlich auch keine nationalen Tendenzen freisetzt, sondern vielleicht eher eine Frage, wie fahren wir besser: mit Abschottung, oder durch Öffnung der Grenzen?
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"speak": In welcher Beziehung stehen wissenschaftliche Soziologie und Zeitgeschichte?
Niklas Luhmann: Ich denke sehr eng. Ich glaube in der Gesellschaftstheorie kann man nicht mit den traditionellen empirischen Methoden arbeiten, das heißt mit social research, oder Experimenten.
Natürlich ist das alles wichtig und gibt Einzeleinsichten über die man dann nicht hinwegkommen kann. Aber ich denke, daß eine Gesellschaftstheorie heute ihren Realitätskontakt in anderen Formen suchen muß. Nämlich in direkten Milieukontakten mit Industrien oder mit Banken und politischen Parteien oder auch mit Brüssel, was weiß ich.
"speak": Sie sprechen jetzt von der organisatorischen Ebene wissenschaftlicher Forschung. Die Frage zielte aber auf die Ebene der Theoriebildung, auf den paradigmatischen Aspekt soziologischer Gesellschaftsbeschreibungen. Welche Rolle spielen da Begriffe wie Weltpolitik oder Zeitgeschichte? Sie haben hier in der LMU München in Ihrer Vorlesungsreihe den Ausdruck Weltgesellschaft als Grundbegriff einer nicht mehr nach Regionen und Staaten gegliederten Uniform sozialer Ordnungen erläutert.
Niklas Luhmann: Ich würde insofern korrigieren, als ich mit Weltgesellschaft nicht die Vorstellung einer zunehmenden Uniformität sehe.
Ich denke nur: Wenn man mit regionalen Unterschieden anfängt, wenn man da ansetzt und feststellt, in Japan ist es anders als in Brasilien, in Thailand anders als in Litauen, dann hat man eigentlich keine Möglichkeit mehr, diese sehr unabhängig eingeführte Variable zu erklären.
Wenn man bei Globalisierung ansetzt, kann man besser erklären, wieso die Weltgesellschaft Unterschiede verstärkt, also die, die schon etwas haben, noch mal begünstigt, und die, die nichts haben nicht begünstigt. Diejenigen, die an der Vorderfront der Wissenschaft arbeiten mit Nobelpreisen zu bedenken, und –
"speak": Eben. Es gibt doch einen Ausdruck, der genau diesen globalen Sachverhalt bezeichnet, nämlich den Begriff Weltmarkt?
Niklas Luhmann: Ja, im ökonomischen Bereich. Ich denke vor allem an Finanzmärkte. Da ja alles, sowohl Konsum als auch Investitionen über Kredit läuft oder rational nur sein kann, wenn partiell mit Krediten gearbeitet wird, ist natürlich der Weltfinanzmarkt ein ganz entscheidender Punkt.
Aber dann hat man natürlich die Frage, unter welchen Bedingungen wer Kredit bekommt und wie sich dann Zentrum-Peripherie-Strukturen ausdifferenzieren unter dem Gesichtspunkt von Kreditfähigkeit und Ausschöpfen von Rationalitätschancen und wie das dann im Lauf der Zeit wechselt, wie es sich beispielsweise von Japan weg nach Taiwan oder Südkorea entwickelt. Wie Billiglohnländer aufsteigen und andere zu Verwaltungszentren werden. Das bleibt ja auf das Ökonomische beschränkt.
Und damit würde man die klassische Religionsentwicklung kaum erklären. Wieso also innerhalb des Islams ein Fundamentalismus entsteht. Innerhalb der christlichen Religionen weniger. Innerhalb der katholischen Religionen in Südamerika neue ganz primitive Trancekulte, die nicht mal zwischen weißer und schwarzer Magie unterscheiden, aber Maria als Hauptperson haben. Diese Entwicklungen wiederum sind ökonomisch nicht wirklich zu erklären, so daß ich mit dem Konzept funktionaler Differenzierung besser fahren würde und das auseinander ziehen könnte, was bereits in der Ökonomie, in der Wissenschaft, in der Religion, in der Auffassung von Intimbeziehungen geschieht.
"speak": Sehen Sie Unterschiede zwischen den mitteleuropäischen Gesellschaften und Gesellschaften, wie denen der USA bei der Entwicklung politischer Strategien z. B. in Bezug auf Minoritäten oder angesichts ökonomischer Krisen?
Niklas Luhmann: Also ich denke in den USA ist traditionell das Gefühl einer Uniformität sehr viel stärker als in Europa. Das heißt die Möglichkeit abweichende Meinungen politisch aufzubauen ist sehr viel geringer entwickelt. Auch schon über das Massenmediensystem, auch schon über die starke Moralisierung durch die Massenmedien, als das in Europa der Fall ist. Aber man weiß nicht, und aus Diskussionen mit interessanterweise jüdischen Freunden, hat man das Gefühl, da ist ein Firnis. Man weiß nie, wann das irgendwo einmal einbricht. Es ist also außerordentlich schwer zu übersehen, ob die Schicht der US-amerikanischen Uniformität in Meinung, diese Schmelztigel-Ideologie nun langsam nachgibt in Bezug auf spanisch sprechende Elemente, spanische Schulen u.s.w. Pluralismus, political correctness und all diese Dinge. Wieweit das nur Anzeichen von einem kommenden, wirklichen Pluralismus sind, ist schwer zu sagen. In Europa sieht das sehr anders aus. Da ist das Problem eher, daß wir politisch gesehen, nicht regierungsfähige und auch nicht regierungswillige Minoritäten kriegen, die einfach ihr Programm vorstellen und damit Prozente der Wählerschaft bekommen und die Parteien, die ein Wahlprogramm haben letztlich auf eine Koalition hindrängen. Daß wir so eine Art italienische demokratia vokrata kriegen. Industrie und Arbeit machen die Politik und dann gibt es noch nationale und ökonomische, oder friedens-, oder was auch immer bewegte Leute, die Prozentpunkte haben, aber keine Opposition bilden können, die irgendwann einmal die Regierung übernehmen soll. Das zeichnet sich in Italien ja auch ab, mit den lege-Bewegungen in Norditalien und dem relativ deutlichen Aufkommen der Neofaschisten. Was mit dem alten Faschismus natürlich nur wenig zu tun hat, aber auch wieder Aussichten hat die alten Parteien abzulösen.
"speak": Sehen Sie in dem Erbe an alteuropäischer Tradition eine Gefahr für die sozialen und politischen Systeme der modernen Staaten? Birgt beispielsweise die historische Genese sozialer und politischer Strukturen der BRD-Gesellschaft nicht einen hohen Grad an Irrationalität in sich, der gefährliche Wirkungen haben könnte? Ich denke an irrationale Bewußtseinselemente, die in der Sprache wurzeln oder in ritualisierten Kultur-Praktiken angelegt sind?
Niklas Luhmann: Zuerst mal würde ich sagen, der europäische Nationalismus ist eine Folge des Buchdrucks. Die einheitlichen Nationalsprachen sind ja erst durch den Buchdruck entstanden. In Russland relativ spät. In Frankreich früher. In Deutschland mit Bibelübersetzungen und dergleichen. Aber ich wüßte nicht weshalb das irrational sein sollte.
Wenn man alles unter ökonomischen Gesichtspunkten sieht, würde man sagen, die ökonomische Politik kann sinnvollerweise unter heutigen Weltbedingungen keine nationale Politik sein.
Wenn man es unter Einwanderungsgesichtspunkten sieht, ist es schon wieder eine andere Frage. In Italien gibt es eine Stadt wie Modena, 60-65.000 Einwohner und über 10.000 Extrakommendita, also Leute aus Afrika. Da sind Probleme, die sicherlich den Nationalismus fördern, die aber sicherlich auch wirklich echte politische Probleme sind. Da stellt sich schon die Frage, ob man die Leute nicht in ihrem eigenen Land mit Arbeit und Industrieaufträgen fördert, als sie zur Migration zu führen.
Insofern denke ich nicht, daß die Idee einer nationalen Einheit irrational ist. Umso mehr auch, daß man sich ja gar nicht vorstellen könnte, daß weltweit ein Weltstaat entsteht und dann die Chinesen die Dänen dauernd überstimmen würden.
Gerade um Demokratie zu haben müßte man lokale Einheiten haben, um Homogenität der Meinungen und Konsense zu ermöglichen, wenn es eine Mehrheitsdemokratie sein soll.
Also es ist einfach ein anderes Konzept von Politik, daß man nicht von vornherein als irrational verurteilen soll.
Wir Deutsche neigen ja mehr als irgendein anderes Volk dazu, Nationalismus für irrational zu halten und haben geschichtliche Gründe dafür.
"speak": In der Linken wird aktuell darüber gestritten, ob es einen bestimmten deutschen Nationalcharakter geben kann, als Ursache, oder mögliche Ursache eines neuen bzw. eines zu befürchtenden Rassismus.
Niklas Luhmann: Ich denke, das ist ein reines Kommunikationsproblem, also Sprachproblem und das Bedürfnis gerade in Massenmedien lokale Nachrichten gegenüber fremden zu bevorzugen. Also wenn die Deutschen irgendwo gewinnen oder beim Bergsteigen verunglücken wird das in Deutschland erwähnt, nicht aber in den USA. Ich denke, das ist keine Frage der psychologischen Einstellung, sondern eine Frage der Kommunikation und speziell der massenmedialen Kommunikation.
"speak": Gibt es für Sie so etwas wie ein Leitmedium zur Zeit?
Niklas Luhmann: Nein. Man muß unterscheiden: Verbreitungsmedien wie Fernsehen, Buchdruck etc. sind nicht zu vergleichen mit Medien, die bestimmte Erfolge erzeugen wie Geld. Für Geld kriegt man was. Mit Macht kann man etwas erzwingen. Mit Liebe kann man die eigenen Eigentümlichkeiten pflegen und dafür Verständnis finden. Also es gibt diese Art von Medien. Und da ist eigentlich eher die Differenzierung auffällig und nicht so sehr die Dominanz. Die Interdependenzen sind immer sehr viel größer. An wirtschaftlichen Problemen scheitern manche Ehen. Andererseits kann man nicht von Dominanz sprechen, denn man wird ja nicht alles am Geld messen wollen.
"speak": Sehen Sie fern?
Niklas Luhmann: Kaum. Außer im Ausland, wenn ich mich an eine Sprache, z.B. Portugiesisch gewöhnen muß. Oder an Englisch. Zuhause habe ich keinen Apparat.
"speak": Denken Sie nicht, daß das Fernsehen als Medium eine wichtige Informationsquelle gerade für die Soziologie sein könnte?
Niklas Luhmann: Ja gut. Das stimmt. Doch doch. Aber das ist zu zeitaufwendig. Vor allem: Es wird ja immer nur dann gesendet, wenn gesendet wird und nicht, wenn ich Zeit habe. Aber gar keine Frage. Diese Integration von Bild, Sprache, die Totalsicht, die möglicherweise manipuliert ist, wenn ich auf der anderen Seite bei Fernsehfilmen mitwirke, natürlich das Sendungsbewußtsein nachher, man darf nicht länger reden als eine Minute etc. – also es manipuliert auf der einen Seite und vermittelt einen Totaleindruck, von dem man Manipulation nicht wieder herausdividieren kann als Zuschauer – also das sind schon Phänomene, ohne die Gesellschaft wahrscheinlich nicht die wäre, die wir heute haben.
"speak": Das war eben auch meine erste Assoziation während Ihres gestrigen Referats, als ich den Ausdruck Weltgesellschaft hörte. In dem Moment, als ein bürgerliches Bedürfnis nach Büchern auftaucht, daraufhin ein Buchmarkt, spricht man plötzlich auch von Weltliteratur und mit der allgemeinen Verbreitun des Fernsehens –
Niklas Luhmann: Die Überzeugungskraft der Bilder und die sofortige Verfügbarkeit weltweit. Den Kohl in Moskau 91 habe ich in Brisbane gesehen und zwar mit British Breakfast News. Und ich wußte immer nicht, wieso es in Moskau jetzt Nacht ist. Ist es die letzte Nacht? Die British Breakfast News kamen um 18 Uhr abends in Brisbane an. Diese Zeiteinheit – also in Moskau springen Leute auf tanks und auch das Bewusstsein, die Welt schaut zu – das ist schon eindrucksvoll.
"speak": Können Sie zum Abschluß einige Prognosen für kommende Entwicklungen von Gesellschaften versuchen?
Niklas Luhmann: Nein. Eigentlich nicht. Ich nehme an, daß in vielen Bereichen und zwar in der Ökonomie und in der Politik die Situation prekärer wird. Und das heißt auch: abhängiger von Zufällen. Von einem Zufall wie Gorbachow, von einzelnen Personen. Oder von einzelnen Ereignissen wie Tschernobyl oder was immer.
Ich glaube es gibt keine Entwicklungslogik, die Trends auszeichnet, sondern eher ein Überdrehen der Normalisierung von an sich unwahrscheinlichen Instabilitäten, die dann von Zufällen abhängen. Und zugleich hohe Kapazitäten des Ausgleichs.
Also einen solchen Crash wie 1929 werden wir so nicht wieder haben. Aber dafür vielleicht ganz andere Formen.
Eher würde ich meinen, daß das Unvorhersehbare vorauszusehen ist und die Frage wie man also Ressourcen des Abfangens von Katastrophen, wenn man das Katastrophen nennen will, wie man das behandelt, wie man das organisatorisch zur Verfügung stellen kann, ist eines der Probleme.
"speak": Glauben Sie, daß die Menschheit mit der Instabilität zurecht kommt?
Niklas Luhmann: Ja was sollte sie denn sonst tun?
"speak": Die Gefahrenpotentiale könnten nicht mehr zu bewältigen sein?
Niklas Luhmann: Eine solche Frage hat nur Sinn, wenn man sich vorstellen könnte, es könnte irgendetwas anderes geschehen außer Katastrophen. Und ich wüßte nicht, was anderes geschehen könnte als das, was sich so abzeichnet an ökonomischer Konzentration, an juristischem raschen Umschlag von Formeln und Begründungen, an politischer Instabilität, die aber über Wahlen im Moment noch abgefangen werden kann.
Aber ich halte mich eigentlich in Bezug auf Prognosen zurück.
Die Soziologie hat Entwicklungen nicht vorausgesehen. Weder die Jugendbewegung in den sechziger Jahren, überhaupt die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen, noch den Zusammenbruch des Ostregimes. Also die wichtigen Dinge kamen überraschend, und das ist vielleicht weniger eine Frage mangelnder Kompetenz der Forscher, sondern eine Frage der Struktur der Gesellschaft. Wir müssen überraschende Strukturänderungen verkraften, die durch Zufälle ausgelöst sind.
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Zur Entstehung und den Umständen:
Im Sommer 1994 baten wir Niklas Luhmann in München am Ende seiner Gastvorlesung in einem Hörsaal der LMU um ein Interview. Der Professor war einverstanden und lud uns ein, ihn am darauf folgenden Nachmittag in seinem Hotel, einer kleinen Pension am Siegestor, zu besuchen. Die Fragen ("speak") stellten Andreas Otteneder und Hermann Schubert.
Der einige Monate nach der Gesprächsaufzeichnung transkribierte Text wird hier erstmals veröffentlicht.
Alle Nutzungs- und Verwertungsrechte bei Andreas Otteneder (THE GREAT GATE) und Hermann Schubert.
Weiter führende Hinweise:
Niklas Luhmann: wikipedia
Talcott Parsons: wikipedia
Douglass C. North: wikipedia
„speak“: basis buchhandlung
Andreas Otteneder: THE GREAT GATE
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Sonntag, 4. März 2007
AUS DEM ARCHIV – DIEDRICH DIEDERICHSEN, HERBST 1991
the great gate, 04:12h
INTERVIEW-PASSAGE
Über Foucault Baudrillard Virilio Theweleit
FRAGE (I): Täuscht der Eindruck, daß Foucault einen größeren Stellenwert als früher hat? (Das Gespräch fand am 12. Oktober 1991 statt, Anm. d. V.) Zumindest taucht der Name in den neueren Texten relativ häufig auf.
DIEDERICHSEN: Texten von wem?
FRAGE (I): Von dir.
DIEDERICHSEN: Von mir? Wirklich?
FRAGE (I): Ich hatte jedenfalls den Eindruck. Die Frage war ja, ob dieser Eindruck täuscht?
DIEDERICHSEN: Kann ich weder ja noch nein sagen. Foucault ist immer schon klasse gewesen. Nur ich habe den nie so wahnsinnig viel gelesen, und es war auch nie so etwas – und das ist auch mit das Gute an Foucault – das man direkt verwenden konnte.
Also ich konnte Foucault noch nie verwenden. Ich konnte noch nie einen Gedanken von Foucault übernehmen, weil er dafür doch zu erratisch war. Deswegen aber immer wieder reinkucken. Während Sachen, die man direkt verwenden kann, irgendwann auch erledigt sind. Das ist vielleicht ein Grund.
Aber meinst du jetzt Foucault im Gegensatz zu einem anderen Namen, der verworfen wurde, oder was?
FRAGE (I): Was heißt verworfen? Ich weiß nicht, was alles in deinem Kopf vorgegangen ist in den letzten 10 Jahren. Aber gut, sagen wir "Foucault" im Gegensatz zu beispielsweise – „Baudrillard“.
DIEDERICHSEN: Ja, das ist in der Tat erledigt. Genau. Das ist so. Die Schriften, die irgendwie wichtig waren, mit denen man gearbeitet hat, waren ja die Spätsiebziger-Jahre-Sachen, Kool Killer und so was. Und was heute so kommt, da kann ich nichts mit anfangen. Erscheint mir auch wahnsinnig beliebig, eine wahnsinnige Spinnerei eben. Gelegentlich natürlich irgendwas schön gesagtes, das man auch wiedererkennen kann. Aber in der Regel doch Scheinprobleme, Raserei, irgendwo hingeführt werden, erfundene Begriffe.
FRAGE (I): Die du auch in deinen Sachen, deiner Arbeit wieder findest, wenn du dir heute deine alten Texte anschaust?
DIEDERICHSEN: Klar, klar. Bloß, der Unterschied ist ja wirklich der, daß der doch immer in irgendwelchen Zusammenhängen eingebunden war, was Baudrillard offensichtlich nicht ist. Und das Buch, bei dem ich dann wirklich gedacht habe, jetzt reichts, war dieses Tagebuch cool memories. Das ist nun wirklich die Härte. Da kommt dann eben: "Der Professor und die Frauen". Und das ist irgendwann nicht mehr zu ertragen.
FRAGE (K): Virilio schreibt ja, glaube ich, gerade für die Vogue einen Artikel über "Warum nicht mehr gereist wird in 20 Jahren."
DIEDERICHSEN: Weil er nämlich nicht mehr reist. Er reist ja nicht mehr.
FRAGE (I): Haha. Und dann schreibt er deswegen die Vogue voll.
DIEDERICHSEN: Er hat ja das Experiment, daß er bis zum Jahre 2000 seine Wohnung nicht mehr verlassen will.
FRAGE (P): Ach ja.
DIEDERICHSEN: Der ist dafür perfekt ausgerüstet mit allem was es gibt und will sozusagen vorführen, daß das geht.
FRAGE (I,K,P, D): Hahaha
DIEDERICHSEN: Nimmt dann auch an Symposien und so weiter Teil via Fernsehschaltung und ist also präsent, macht alles mögliche, aber verläßt seine Wohnung nicht mehr bis zum Jahr 2000, um das eben irgendwie...
(Allgemeines Gelächter)
FRAGE (K): Okay, das ist jetzt ein bißchen namedropping, aber mich würde interessieren, was du von dem letzten Buch von Theweleit, diesem Paare-Buch hältst.
DIEDERICHSEN: Meinst du das Buch der Könige oder Objektwahl?
FRAGE (K): Objektwahl. Als Theweleit in München daraus gelesen hat wurde er von den Leuten dauernd gefragt, ob denn die Liebe noch geht. Der mußte da den Lebensratgeber machen.
FRAGE (I): Nein, hör auf. Das war eine zu traurige Geschichte. Das war ja fürchterlich.
DIEDERICHSEN: Außerdem ist natürlich genau das der Grund, warum die Sachen von dem so erfolgreich sind. Weil man sie eben so auch lesen kann.
Aber wie gesagt, von dem Buch der Könige habe ich eine Menge gehalten, weil es versucht Ausbeutung auf Bereichen festlegbar zu machen, wo bis jetzt kein Mensch von Ausbeutung gesprochen hat, sondern immer nur von persönlichen Beziehungen. Und das ist im Prinzip eine richtige Frage. Wiederum auch, wenn man sich dafür interessiert: Wo kommen politische Subjekte her? Wo kommt vielleicht eine Kulturarbeiterklasse her, oder so was, was natürlich nicht mehr so eine monolithische Arbeiterklasse sein kann? Insofern denke ich mal, der ganze Forschungsansatz ist sehr gut.
Nur, daß das auch immer sehr persönliche, direkte Beschreiben von seinem Privatleben und Privatleben die er kennt und das Wiedererkennen darin – was seine Generationsgenossen dann damit verbinden, also was die darin wieder erkennen – natürlich zu den ganzen Erfolgen führt, die er bei Leuten wie Antje Vollmer und Rudolf Augstein oder so hat, ist klar. Das ist natürlich eine Richtung, seine Sachen zu lesen, die ich nicht so interessant finde.
* * *
Das insgesamt etwa dreieinhalb Stunden dauernde Gespräch fand im Oktober 1991 im Redaktionsbüro der Zeitschrift SPEX in der Kölner Aachener Straße statt, wurde auf Band mitgeschnitten und im September 1992 transkribiert.
Der hier vorgestellte Auszug des bislang unveröffentlichten Interview-Textes ist das geistige Eigentum von
Diedrich Diederichsen,
Andreas Otteneder (I)
Martin Posset (P)
Peter Kessen (K)
Jede von den Genannten nicht explizit autorisierte kommerzielle Nutzung oder Verwendung des Textmaterials verletzt das Urheberrecht und wird dem entsprechend geahndet.
Feedback oder Anfragen per E-Mail an AOtteneder@aol.com
Über Foucault Baudrillard Virilio Theweleit
FRAGE (I): Täuscht der Eindruck, daß Foucault einen größeren Stellenwert als früher hat? (Das Gespräch fand am 12. Oktober 1991 statt, Anm. d. V.) Zumindest taucht der Name in den neueren Texten relativ häufig auf.
DIEDERICHSEN: Texten von wem?
FRAGE (I): Von dir.
DIEDERICHSEN: Von mir? Wirklich?
FRAGE (I): Ich hatte jedenfalls den Eindruck. Die Frage war ja, ob dieser Eindruck täuscht?
DIEDERICHSEN: Kann ich weder ja noch nein sagen. Foucault ist immer schon klasse gewesen. Nur ich habe den nie so wahnsinnig viel gelesen, und es war auch nie so etwas – und das ist auch mit das Gute an Foucault – das man direkt verwenden konnte.
Also ich konnte Foucault noch nie verwenden. Ich konnte noch nie einen Gedanken von Foucault übernehmen, weil er dafür doch zu erratisch war. Deswegen aber immer wieder reinkucken. Während Sachen, die man direkt verwenden kann, irgendwann auch erledigt sind. Das ist vielleicht ein Grund.
Aber meinst du jetzt Foucault im Gegensatz zu einem anderen Namen, der verworfen wurde, oder was?
FRAGE (I): Was heißt verworfen? Ich weiß nicht, was alles in deinem Kopf vorgegangen ist in den letzten 10 Jahren. Aber gut, sagen wir "Foucault" im Gegensatz zu beispielsweise – „Baudrillard“.
DIEDERICHSEN: Ja, das ist in der Tat erledigt. Genau. Das ist so. Die Schriften, die irgendwie wichtig waren, mit denen man gearbeitet hat, waren ja die Spätsiebziger-Jahre-Sachen, Kool Killer und so was. Und was heute so kommt, da kann ich nichts mit anfangen. Erscheint mir auch wahnsinnig beliebig, eine wahnsinnige Spinnerei eben. Gelegentlich natürlich irgendwas schön gesagtes, das man auch wiedererkennen kann. Aber in der Regel doch Scheinprobleme, Raserei, irgendwo hingeführt werden, erfundene Begriffe.
FRAGE (I): Die du auch in deinen Sachen, deiner Arbeit wieder findest, wenn du dir heute deine alten Texte anschaust?
DIEDERICHSEN: Klar, klar. Bloß, der Unterschied ist ja wirklich der, daß der doch immer in irgendwelchen Zusammenhängen eingebunden war, was Baudrillard offensichtlich nicht ist. Und das Buch, bei dem ich dann wirklich gedacht habe, jetzt reichts, war dieses Tagebuch cool memories. Das ist nun wirklich die Härte. Da kommt dann eben: "Der Professor und die Frauen". Und das ist irgendwann nicht mehr zu ertragen.
FRAGE (K): Virilio schreibt ja, glaube ich, gerade für die Vogue einen Artikel über "Warum nicht mehr gereist wird in 20 Jahren."
DIEDERICHSEN: Weil er nämlich nicht mehr reist. Er reist ja nicht mehr.
FRAGE (I): Haha. Und dann schreibt er deswegen die Vogue voll.
DIEDERICHSEN: Er hat ja das Experiment, daß er bis zum Jahre 2000 seine Wohnung nicht mehr verlassen will.
FRAGE (P): Ach ja.
DIEDERICHSEN: Der ist dafür perfekt ausgerüstet mit allem was es gibt und will sozusagen vorführen, daß das geht.
FRAGE (I,K,P, D): Hahaha
DIEDERICHSEN: Nimmt dann auch an Symposien und so weiter Teil via Fernsehschaltung und ist also präsent, macht alles mögliche, aber verläßt seine Wohnung nicht mehr bis zum Jahr 2000, um das eben irgendwie...
(Allgemeines Gelächter)
FRAGE (K): Okay, das ist jetzt ein bißchen namedropping, aber mich würde interessieren, was du von dem letzten Buch von Theweleit, diesem Paare-Buch hältst.
DIEDERICHSEN: Meinst du das Buch der Könige oder Objektwahl?
FRAGE (K): Objektwahl. Als Theweleit in München daraus gelesen hat wurde er von den Leuten dauernd gefragt, ob denn die Liebe noch geht. Der mußte da den Lebensratgeber machen.
FRAGE (I): Nein, hör auf. Das war eine zu traurige Geschichte. Das war ja fürchterlich.
DIEDERICHSEN: Außerdem ist natürlich genau das der Grund, warum die Sachen von dem so erfolgreich sind. Weil man sie eben so auch lesen kann.
Aber wie gesagt, von dem Buch der Könige habe ich eine Menge gehalten, weil es versucht Ausbeutung auf Bereichen festlegbar zu machen, wo bis jetzt kein Mensch von Ausbeutung gesprochen hat, sondern immer nur von persönlichen Beziehungen. Und das ist im Prinzip eine richtige Frage. Wiederum auch, wenn man sich dafür interessiert: Wo kommen politische Subjekte her? Wo kommt vielleicht eine Kulturarbeiterklasse her, oder so was, was natürlich nicht mehr so eine monolithische Arbeiterklasse sein kann? Insofern denke ich mal, der ganze Forschungsansatz ist sehr gut.
Nur, daß das auch immer sehr persönliche, direkte Beschreiben von seinem Privatleben und Privatleben die er kennt und das Wiedererkennen darin – was seine Generationsgenossen dann damit verbinden, also was die darin wieder erkennen – natürlich zu den ganzen Erfolgen führt, die er bei Leuten wie Antje Vollmer und Rudolf Augstein oder so hat, ist klar. Das ist natürlich eine Richtung, seine Sachen zu lesen, die ich nicht so interessant finde.
* * *
Das insgesamt etwa dreieinhalb Stunden dauernde Gespräch fand im Oktober 1991 im Redaktionsbüro der Zeitschrift SPEX in der Kölner Aachener Straße statt, wurde auf Band mitgeschnitten und im September 1992 transkribiert.
Der hier vorgestellte Auszug des bislang unveröffentlichten Interview-Textes ist das geistige Eigentum von
Diedrich Diederichsen,
Andreas Otteneder (I)
Martin Posset (P)
Peter Kessen (K)
Jede von den Genannten nicht explizit autorisierte kommerzielle Nutzung oder Verwendung des Textmaterials verletzt das Urheberrecht und wird dem entsprechend geahndet.
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