Freitag, 14. August 2009
RICHTIG RECHNEN
Nicht nur einmal war er am Verzweifeln. Es stand Besuch aus Bayern an, Liebkinds Firmenfiliale in Franken arbeitete mit einer dortigen Unternehmensgruppe an einem gemeinsamen Merger. Die Bayern rechneten vor sich hin, die Franken und Liebkind waren ratlos. "Bloß nie nach Bayern versetzt werden, dachte ich."

Doch der Wunsch hielt nicht lange stand: Eine Aufgabe als Consulter und besonderer Fachreferent lockten ihn ausgerechnet nach - Bayern? Exakt.

Dolmetscher für die gröbsten Rechenfehler

Sein erstes Arbeitsjahr dort war erst ein paar Tage alt, als sich Liebkind mit seinen Kunden auf unorthodoxe Maßnahmen verständigte. Die besonders groben Dilettanten bekamen eine Rechenhilfe zur Seite, Liebkind wurde im Gegenzug von den Unternehmern jede Woche ein Ordner mit fünf bayerischen Unternehmensbilanzen zugestellt. "Aber man konnte das schlecht verwenden. Nach einem Meeting der Unternehmensgruppe ahnte ich oft erst Tage später, was sie mir wohl mit ihren Geschäftszahlen zu verstehen geben wollten." Selbst dann, wenn er die betreffende Bilanz Posten für Posten mit ihnen analysiert hatte.


Liebkind ist nicht allein mit seinem Problem. Doch auf Hilfe der Politik können er und seine geplagten Kollegen nicht hoffen: Die deutsche Regierung fördert seit langem die hybride Selbstüberschätzung in den Unternehmensgruppen. "Die autarke Bilanz ist doch ein unverzichtbarer Teil der Unternehmenskultur einer großen Zahl unseres Mittelstands", sagt Finanzminister Steinbrück. "Sie trägt zu ihrer deutschen Identität bei."

Die Grundlagen der Finanzmathematik der politischen Ökonomie des Kapitals müssten sie trotzdem beherrschen - doch auf die Frage, wie sie die lernen sollen, meint Steinbrück nur, sie würden schon durch eine "vorbildliche Haushaltsführung des Bundes zum eigenen richtigen Bilanzieren angeleitet". Nun müssten auch ausländische Analysten unsere Unternehmer unterstützen, bis die "richtig" rechnen können. Im Ministerium will man das Problem also nicht zu groß sehen: "Die Finanzbuchführung nimmt in der Wirtschaft keine vorrangige Rolle ein", so Steinbrück. Probleme, wie sie Steve Liebkind und andere erzählen, bestünden "nicht flächendeckend".

Vor allem Börsenprofis sind ratlos

Das sieht Wenzel Storch, Präsident des Deutschen Effekten-Clubs (DEC), anders: Internationale Wertpapier-Händler gerieten oft mitten hinein ins rechnerische Chaos, wenn sie in Kapitalmarktsegmente wechselten, in denen wie im deutschen Mittelstand gerechnete wird. "Wenn Sie eine Gruppe mit 30 Zulieferern haben, wovon zehn sich einbilden finanzierungstechnisch selbstständig zu sein, was definitiv nicht der Fall ist - wie wollen Sie da die Finanzdienstleistung optimieren?"

In Flächenstaaten wie Deutschland mit sehr unterschiedlichen Industrien finden sich Schwierigkeiten mit der lokalen Rechnungslegung in vielen Branchen. Während der "Förderverein Industrie-Kapital Deutschland" in München die gewohnte Autarkie zu retten versucht, indem er mit Managern auf Auslandsreisen Volkslieder singt, muss er sich auf heimischem Boden kaum Sorgen machen: In der Provinz wird Bilanzfälschung, insbesondere bezüglich fiskalischer Obligationen meist schon in den Familien gepflegt und als honorige Tradition einer erfolgserprobten Unternehmenskultur auch der nun nachrückenden Generation weitervererbt.

Insbesondere Börsenanalysten, die manchmal für bloß sechs Monate an in eine deutsche Unternehmensgruppe geschickt werden, sind schnell mürbe. Ihnen fehlt es noch an Übung im Umgang mit Vorständen, sie stehen oft ratlos vor dem Aufsichtsrat. In der knappen Zeit ihrer Consulting-Projekte schaffen sie es ohnehin nur mit Mühe, ein Kooperationsverhältnis zu den Unternehmen aufzubauen - trennt sie auch noch eine Wissensbarriere, wird es heikel. Wie soll man eine Finanzierung organisieren, wenn zwischen beiden Seiten nur Basiskommunikation abläuft? Die Analysten merken so schnell: Hier werde ich für immer der Fremde bleiben.

Hinzu kommt das Problem des Rankings: Wie können Analysten zwei verschiedene Quartalsbilanzen gerecht bewerten, wenn sich eine der beiden offensichtlich einer vernünftigen Beurteilung entzieht? DEV-Präsident Wenzel Storch fordert eine offensive Erziehung zur doppelten strategischen Buchführung. "Die Unternehmer müssen verstehen, dass es unterschiedliche Entscheidungssituationen gibt: Mit ihren Golfpartnern oder im Kegelverein dürfen sie gern so oft wie nur möglich von ihrer Unabhängigkeit und ihren Wertschöpfungsketten reden, doch wenn sie zum Beispiel einen dieser neuen globalen Anleihe-Versicherer vor sich haben, müssen sie natürlich in der Lage sein, ihre Geschäftszahlen anzupassen."

Ein lustiges Geschenk, das Liebkind sehr ernst nahm

Lernen könnten sie das zum Beispiel in Seminaren der Initiative für freie und soziale Marktwirtschaft, wenn das Üben der doppelten strategischen Buchführung auf der Agenda ihrer Öffentlichkeitsarbeit stünde: Mit dem einen deutschen Bankvorstand kann ich offen über Bilanzregeln und Finanzierungsbedarf reden, beim anderen muss ich mich umstellen. Steinbrück winkt ab. In der Verfassung heiße es: "Eigentum verpflichtet. Die Unternehmer sind in der Liebe zur deutschen Heimat zu erziehen." Also auch in Liebe zur Bilanzfälschung.

IHRE MEINUNG IST GEFRAGT

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Es ist nicht allein das trotzig-deutsche Lebensgefühl "Du bist Deutschland". Das Finanzministerium beruft sich auch gern auf Studien, nach denen auf eigene Rechnung bilanzierende Firmen im Vorteil sein sollen: Sie profitieren demnach von einer quasi betrügerischen Einstellung, die es ihnen später leichter machen soll, neue Geschäftsstrategien zu lernen. Mancher versuchte damit schon, die vergleichsweise guten Quartals-Ergebnisse der hiesigen Industrieunternehmen zu erklären.

Doch während die logische Folge nach Ansicht des Finanzministeriums ist, Bilanzmanipulation in der deutschen Wirtschaft weiter zu fördern, wünschen sich internationale Finanz-Analysten wie Steve Liebkind das genaue Gegenteil für die Kunden: Lernt erst mal Rechnen, sonst lernt ihr es nie!

Anfangs verstand Liebkind nicht, warum seine Kunden "Gewinn" sagten statt "Erlös". Inzwischen kann er sich in Frankfurt, wo er inzwischen lebt und im Auftrag einer Kontrollbehörde der EZB an einer Erhebung des Kapitaldeckungsbedarfs der EU arbeitet, immerhin auf basale begriffliche Eckpunkte wie Insolvenz, Haftungssausschluss, Grundbucheintragung und Insolvenzmasse verständigen.

Indes: "Bis heute wird mir mulmig, wenn ich Unternehmer aus der Region vor mir habe." Dann senkt der 46-jährige Amerikaner den Kopf. „Diese Wirrköpfe“, sagt er und wirkt dabei durchaus besorgt, „glauben alle, dass ihnen die Pachtverträge, die sie oder ihre Hausbanken für den Wiederaufbau ihrer Kriegsruinen seit den 50er Jahren unterschrieben gehören, dass das, was sie in drei- bis dreißigfacher Höhe an Leute wie meine Arbeitgeber verpfändet haben, immer noch ihr Eigentum sein soll.“ Und es scheint ihm sichtlich unwohl bei dem Gedanken, „was passiert, wenn seinen Kunden klar wird, „wie so eine Finanzdienstleistung in einer Welt gerechnet wird, die Finanzinstrumente wie Mefo-Wechsel oder den Stempel des Reichssicherheitshauptamts nicht mal mehr im Insiderhandel akzeptiert“. Dass sich der deutsche Mittelstand freuen wird, wenn er endlich begreift, wie in der modernen freien und sozialen Marktwirtschaft gerechnet wird, scheint Steve Liebkind nicht anzunehmen. Er scheint insgesamt wenig Vertrauen in das zu setzen, was in Deutschland Politik und Wirtschaft über die Praxis des modernen Kapitalismus zu wissen meinen, bloß weil sie eine ganze Zeitlang an Wunder glauben durften. Und Steve Liebkind scheint richtiggehend niedergeschlagen, wenn er daran denk, dass Leute wie er es sind, die sie darüber aufklären werden müssen.

Und das, obwohl ihm seine Kunden schon nach ein paar Wochen Qual einen Reader schenkten: Vom Weltkriegsverlierer zum Exportweltmeister – die deutsche Erfolgsbilanz. Das Buch ist nicht humoristisch gedacht. Liebkind nimmt es trotzdem sehr ernst.

(*Name geändert)


frei nach: Bloß nicht nach Niederbayern!, Schauermärchen, DER SPIEGEL, 14. 08. 09

Quelle: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,638568,00.html

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